Die Flüchtlinge, die bereits das, was sie gerade gesehen hatten, völlig aus dem Gleichgewicht geworfen hatte, schrien auf, als sich Rydens Drachen jetzt auf sie richteten, und die meisten von ihnen warfen sich voll Furcht zu Boden und machten den Weg frei. Ein Weg, der die vom Feind besetzte Stadtmauer entblößte. Rydens Drachenreihe bog sich nach innen wie eine Becheröffnung, eine genau entgegengesetzte Formation der Geschütze, die auf den Platz feuerten. Diese Rohre zeigten alle auf die gleiche Stelle der Stadtmauer.
»Gebt mir einen dieser verfluchten Stäbe!«, rief Talmanes und streckte die Hand aus. Einer der Drachenmänner gehorchte und reichte ihm eine der Stangen mit der glühenden roten Spitze. Er stieß sich von Melten ab, fest entschlossen, einen Augenblick lang allein zu stehen.
Guybon eilte heran. In Talmanes’ überanstrengten Ohren klang die Stimme des Mannes ganz leise. »Diese Mauer steht seit Hunderten von Jahren. Meine arme Stadt. Meine arme, bedauernswerte Stadt.«
»Das ist nicht länger Eure Stadt«, sagte Talmanes und reckte die glühende Stange hoch in die Luft, voller Trotz vor einer Mauer voller Trollocs, eine brennende Stadt im Rücken. »Sie gehört ihnen.«
Talmanes schwang den Stab nach unten und zeichnete eine rot glühende Spur in die Luft. Sein Signal löste tosendes Drachenfeuer aus, das über den Platz hallte.
Trollocs oder vielmehr Stücke von ihnen flogen durch die Luft. Die Mauer unter ihnen explodierte wie ein Stapel Bauklötze, auf den jemand mit voller Kraft eingetreten hatte. Talmanes schwankte und ihm wurde schwarz vor Augen, aber er sah noch, wie die Stadtmauer rings um das Loch herum nach außen einstürzte. Als er das Bewusstsein verlor und umkippte, schien der Boden durch die Gewalt seines Sturzes zu erbeben.
1
Ostwärts blies der Wind
Das Rad der Zeit dreht sich, Zeitalter kommen und vergehen und lassen Erinnerungen zurück, die zu Legenden werden. Legenden verblassen zu Mythen, und sogar der Mythos ist lange vergessen, wenn das Zeitalter wiederkehrt, aus dem er geboren wurde. In einem Zeitalter, das von einigen das Dritte Zeitalter genannt wurde, einem Zeitalter, das noch kommen sollte, einem lange vergangenen Zeitalter, erhob sich in den Verschleierten Bergen ein Wind. Der Wind war nicht der Anfang. Es gibt bei der Drehung des Rades der Zeit keinen Anfang und kein Ende. Aber es war ein Anfang.
Ostwärts blies der Wind, senkte sich herab von kühnen Gipfeln und strich über einsame Hügel. Er kam zu dem Ort, den man Westwald nannte, ein Gebiet, in dem einst Kiefern und Zwerglorbeer wucherten. Hier fand der Wind kaum mehr als dichtes Unterholz und gelegentlich hohe Eichen. Die Bäume sahen krank aus, die Rinde schälte sich, die Äste hingen herab. Anderswo waren die Nadeln von den Kiefernzweigen abgefallen und hüllten den Boden in einen braunen Teppich. Keiner der knochenartigen Äste des Westwaldes wies Knospen auf.
Nach Norden und Osten blies der Wind durch Unterholz, das knisterte und barst, wenn es geschüttelt wurde. Es war Nacht, und dürre Füchse strichen über den verfaulenden Boden, auf der vergeblichen Suche nach Beute oder Aas. Der Frühling hatte keine Vögel gebracht, und im ganzen Land war das Heulen der Wölfe verstummt, was noch viel bezeichnender war.
Der Wind verließ den Wald und strich über Taren-Fähre. Nach örtlichem Maßstab war dies einst eine prächtige Stadt gewesen. Dunkle Häuser, die sich hoch über ihr Fundament aus Rotstein erhoben, eine gepflasterte Straße, das alles erbaut an der Öffnung des Landes, das man die Zwei Flüsse nannte.
Schon lange stieg von den niedergebrannten Gebäuden kein Rauch mehr auf, aber es war nur wenig von der Stadt übrig geblieben, das man hätte wiederaufbauen können. Wilde Hunde suchten in den Trümmern nach Nahrung. Mit hungrigen Blicken schauten sie auf, als der Wind vorbeiwehte.
Der Wind überquerte den Fluss in östlicher Richtung. Hier waren Gruppen von Flüchtlingen trotz der späten Stunde mit Fackeln in den Händen auf dem langen Weg von Baerlon nach Weißbrücke unterwegs. Es waren traurig anzusehende Gestalten, mit gesenkten Köpfen und hängenden Schultern. Einige hatten die kupferfarbene Haut von Domani, und ihre zerschlissene Kleidung verriet deutlich, wie schwer es gewesen war, die Berge ohne ausreichende Vorräte zu überqueren. Andere kamen von noch viel weiter entfernten Orten. Taraboner mit eingeschüchterten Blicken über schmutzigen Schleiern. Bauern und ihre Frauen aus dem nördlichen Ghealdan. Sie alle hatten Gerüchte gehört, dass es in Andor noch etwas zu essen gab. In Andor gab es Hoffnung.
Bis jetzt hatten sie keines von beidem gefunden.
Der Wind wehte nach Osten, folgte dem Fluss, der sich zwischen Bauernhöfen ohne Weizen schlängelte. Grasland ohne Gras. Obstplantagen ohne Früchte.
Verlassene Dörfer. Bäume wie Knochen, deren Fleisch abgenagt worden war. Oft drängten sich Raben auf ihren Ästen; hungernde Hasen und manchmal auch Rehe durchsuchten das tote Gras am Boden. Über allem drückten die allgegenwärtigen Wolken auf das Land. Manchmal sorgte die Wolkendecke dafür, dass man unmöglich sagen konnte, ob es Tag oder Nacht war.
Als sich der Wind der großen Stadt Caemlyn näherte, bog er nach Norden ab, fort von der brennenden Stadt – erfüllt vom rot und orange lodernden Schein spuckte sie schwarzen Rauch zu den hungrigen Wolken empor. In der Stille der Nacht war der Krieg nach Andor gekommen. Die näher kommenden Flüchtlinge würden bald entdecken, dass sie auf die Gefahr zumarschiert waren. Das war nicht überraschend. Gefahr lauerte in allen Richtungen. Die einzige Möglichkeit, sich ihr nicht zu nähern, bestand darin, auf der Stelle zu verharren.
Als der Wind nach Norden weiterzog, passierte er Leute, die allein oder in kleinen Gruppen am Straßenrand hockten und in deren Augen keinerlei Hoffnung zu entdecken war. Einige lagen auch am Boden und hungerten dort, während sie zu den grollenden, brodelnden Wolken emporschauten. Andere schleppten sich einfach weiter, obwohl sie nicht wussten, wo sie das hinführte. Zur Letzten Schlacht, nach Norden, was auch immer das zu bedeuten hatte. Die Letzte Schlacht bot keine Hoffnung. Die Letzte Schlacht war der Tod. Aber es war ein Ort, an dem man sein konnte, ein Ort, an den man gehen konnte.
In der Dunkelheit des Abends erreichte der Wind eine große Versammlung weit nördlich von Caemlyn. Dieses große Feld riss eine Lücke in die bewaldete Landschaft, aber es war mit Zelten übersät wie ein verfaulender Baumstamm mit Pilzen. Zehntausende Soldaten warteten neben Lagerfeuern, die schnell das Brennmaterial der Gegend erschöpften.
Der Wind fuhr zwischen sie und peitschte den Rauch der Feuer in die Gesichter der Soldaten. Hier zeigten die Menschen nicht die Hoffnungslosigkeit der Flüchtlinge, aber ihnen haftete ein Grauen an. Sie sahen das kranke Land. Sie fühlten die Wolken am Himmel. Sie wussten Bescheid.
Die Welt lag im Sterben. Die Soldaten starrten die Flammen an und sahen zu, wie das Holz verschlungen wurde. Scheit für Scheit verwandelte sich einst Lebendiges in Asche.
Eine Kompanie Männer inspizierte Rüstungen, die trotz sorgfältigen Einölens zu rosten angefangen hatten. Eine Gruppe Aiel in weißen Gewändern holte Wasser – ehemalige Krieger, die sich weigerten, ihre Waffen wieder zu ergreifen, obwohl sie ihr Toh erfüllt hatten. Ein Haufen ängstlicher Diener, die der festen Überzeugung waren, dass der morgige Tag den Krieg zwischen der Weißen Burg und dem Wiedergeborenen Drachen bringen würde, organisierte Vorräte in vom Wind geschüttelten Zelten.
Männer und Frauen flüsterten die Wahrheit in die Nacht. Das Ende ist da. Das Ende ist da. Alles wird fallen. Das Ende ist da.