Gelächter erfüllte die Luft.
Aus einem großen Zelt in der Lagermitte fiel warmes Licht aus dem Spalt des Zelteingangs und kroch unter den Rändern hervor.
Im Zelt lachte Rand al’Thor – der Wiedergeborene Drache – mit in den Nacken geworfenem Kopf.
»Und was hat sie gemacht?«, fragte Rand, als er sich wieder beruhigt hatte. Er schenkte sich einen Becher mit rotem Wein ein, dann noch einen für Perrin, der bei der Frage errötet war.
Er ist härter geworden, dachte Rand, aber irgendwie hat er seine Unschuld nicht verloren. Jedenfalls nicht ganz. Rand fand das ganz erstaunlich. Ein Wunder, wie eine in einer Forelle entdeckte Perle. Perrin war stark, aber seine Stärke hatte ihn nicht gebrochen.
»Nun«, erwiderte Perrin, »du weißt ja, wie Marin ist. Irgendwie schafft sie es, selbst Cenn anzusehen, als wäre er ein Kind, das die Mutter braucht. Faile und mich wie zwei junge Narren auf dem Boden liegend vorzufinden … nun, ich glaube, sie konnte sich nicht entscheiden, ob sie über uns lachen oder uns in die Küche zum Geschirrspülen schicken sollte. Voneinander getrennt natürlich, damit wir nicht in Schwierigkeiten geraten.«
Rand lächelte und versuchte es sich bildlich vorzustellen. Perrin, der stattliche Perrin, so schwach, dass er kaum laufen konnte. Das Bild wollte keinen Sinn ergeben. Rand wollte sich damit zufriedengeben, dass sein Freund übertrieb, aber Perrin hatte keine unehrliche Faser im Leib. Seltsam, wie sehr sich ein Mann doch verändern konnte, während er im Kern genau derselbe blieb.
»Wie dem auch sei«, sagte Perrin, nachdem er einen Schluck Wein genommen hatte, »Faile hob mich vom Boden auf und setzte mich aufs Pferd, und dann stolzierten wir umher und taten so, als seien wir wichtig. Ich tat nicht viel, Rand. Der Kampf wurde von den anderen geführt – ich hatte Schwierigkeiten, einen Becher an die Lippen zu führen.« Er hielt inne, und der Blick seiner goldenen Augen schien in die Ferne zu schweifen. »Du solltest stolz auf sie sein, Rand. Ohne Dannil, deinen Vater und Mats Vater, ohne sie hätte ich nicht einmal die Hälfte dessen geschafft, was ich tat. Nein, nicht einmal ein Zehntel.«
»Das glaube ich.« Rand betrachtete seinen Wein. Lews Therin hatte Wein geliebt. Ein Teil von Rand, ein sehr ferner Teil, die Erinnerungen eines Mannes, der er gewesen war, war über diesen schlechten Jahrgang erbost. In der derzeitigen Welt konnte nur wenig Wein mit den bevorzugten Jahrgängen des Zeitalters der Legenden mithalten. Das galt zumindest für die, die er getrunken hatte.
Er nahm einen kleinen Schluck und stellte den Becher dann ab. Min schlief noch immer in einem anderen Teil des Zeltes, das durch einen Vorhang abgetrennt war. Ereignisse in seinen Träumen hatten Rand aufgeweckt. Er war froh gewesen, dass Perrins Ankunft ihn von dem abgelenkt hatte, was er dort gesehen hatte.
Mierin … Nein. Er würde nicht zulassen, dass diese Frau ihn ablenkte. Vermutlich hatte er sie allein aus diesem Grund sehen sollen.
»Begleite mich ein Stück«, sagte er. »Ich muss noch ein paar Dinge für morgen überprüfen.«
Sie traten hinaus in die Nacht. Mehrere Töchter schlossen sich ihnen an, als Rand zu Sebban Balwer ging, dessen Dienste Perrin ihm geliehen hatte. Was Balwer nur recht war, der dazu neigte, sich stets denen anzuschließen, die die größte Macht besaßen.
»Rand?«, fragte Perrin und ging mit der Hand auf Mah’alleinir neben ihm. »Ich habe dir das doch alles bereits erzählt, die Belagerung der Zwei Flüsse, die Kämpfe … Warum hast du dich noch einmal danach erkundigt?«
»Zuvor hatte ich nach den Ereignissen gefragt, Perrin. Ich wollte wissen, was geschehen war, aber ich hatte mich nicht nach den Menschen erkundigt, die davon betroffen waren.« Er sah Perrin an und erschuf eine Lichtkugel, damit sie in der Dunkelheit sehen konnten, wo sie hintraten. »Ich muss mich an die Menschen erinnern. Darauf zu verzichten ist ein Fehler, den ich in der Vergangenheit viel zu oft begangen habe.«
Der unstete Wind trug den Geruch der Feuer aus Perrins Lager und die Geräusche der an Waffen arbeitenden Schmiede heran. Rand kannte die Geschichten: mit der Einen Macht geschmiedete Waffen, deren Herstellung man neu entdeckt hatte. Perrin hatte seine Männer rund um die Uhr arbeiten lassen und seine beiden Asha’man bis zur Erschöpfung angetrieben, um so viel wie möglich davon zu machen.
Rand hatte ihm so viele zusätzliche Asha’man geliehen, wie er entbehren konnte, und das auch nur, weil Dutzende von Töchtern bei ihm vorgesprochen und mit der Macht hergestellte Speerspitzen verlangten, sobald sie davon gehört hatten. Das ist nur vernünftig, Rand al’Thor, hatte Beralna erklärt. Seine Schmiede können vier Speerspitzen statt eines Schwertes herstellen. Bei dem Wort Schwert hatte sie das Gesicht verzogen, als schmeckte es wie Meerwasser.
Rand hatte noch nie Meerwasser probiert. Lews Therin schon. Einst hatte ihn das Wissen über solche Tatsachen zutiefst beunruhigt. Jetzt hatte er gelernt, diesen Teil von sich zu akzeptieren.
»All das, was wir erlebt haben – kannst du das alles eigentlich wirklich glauben?«, fragte Perrin. »Beim Licht, manchmal frage ich mich, wann der Mann, dem diese feinen Kleider in Wirklichkeit gehören, endlich angestürmt kommt, um mich anzubrüllen und dann zum Ausmisten in den Stall zu schicken, weil mein Kopf schon längst zu groß für meinen Kragen geworden ist.«
»Das Rad webt, was das Rad will, Perrin. Wir sind zu dem geworden, zu dem wir werden mussten.«
Perrin nickte, während sie den Weg zwischen den Zelten entlanggingen, der von dem Licht über Rands Hand erleuchtet wurde.
»Wie … wie fühlt sich das eigentlich an?«, wollte Perrin wissen. »Diese Erinnerungen, die du zusätzlich bekommen hast.«
»Hattest du jemals einen Traum, an den du dich nach dem Aufwachen noch in allen Einzelheiten ganz deutlich erinnern konntest? Keiner von denen, die schnell verblassen, sondern der dich den ganzen Tag lang nicht mehr losließ?«
»Ja«, erwiderte Perrin und klang seltsam reserviert dabei. »Ja, ich kann behaupten, dass ich das hatte.«
»Es ist so ähnlich. Ich kann mich daran erinnern, Lews Therin gewesen zu sein, kann mich daran erinnern, getan zu haben, was er tat, so wie man sich an Handlungen in einem Traum erinnert. Ich tat diese Dinge, aber das heißt nicht, dass sie mir gefallen. Ich bin auch nicht immer der Meinung, dass ich im wachen Zustand das Gleiche getan hätte. Aber es ändert nichts an der Tatsache, dass sie im Traum wie die richtigen Entscheidungen erschienen.«
Perrin nickte.
»Er ist ich«, sagte Rand. »Und ich bin er. Aber wiederum auch nicht.«
»Nun, du erscheinst noch immer wie du selbst«, sagte Perrin, allerdings entging Rand das kurze Zögern bei dem Wort »erscheinst« nicht. Hatte Perrin nicht stattdessen »riechst« sagen wollen? »So sehr hast du dich nicht verändert.«
Rand bezweifelte, ob er es Perrin erklären konnte, ohne wie ein Verrückter zu klingen. Die Person, die er wurde, wenn er den Mantel des Wiedergeborenen Drachen trug … das war nicht einfach nur eine Maske, es war auch kein Schauspiel.
Das war, wer er war. Er hatte sich nicht verändert, er hatte sich nicht verwandelt. Er hatte es bloß einfach akzeptiert.
Das bedeutete keineswegs, dass er sämtliche Antworten kannte. Auch wenn vierhundert Jahre Erinnerungen in seinem Verstand ruhten, bereitete ihm das, was er tun musste, noch immer große Sorgen. Lews Therin hatte nicht gewusst, wie man die Bohrung versiegeln sollte. Sein Versuch hatte in die Katastrophe geführt. Der Makel, die Zerstörung der Welt, das alles für einen mangelhaften Kerker mit Siegeln, die nun brüchig waren.
Eine Antwort kam Rand immer wieder in den Sinn. Eine gefährliche Antwort. Eine Antwort, die Lews Therin nicht in Betracht gezogen hatte.
Was, wenn die Antwort nicht darin lag, den Dunklen König wieder hinter Siegeln einzusperren? Was, wenn die Antwort, die endgültige Antwort, ganz anders lautete? Etwas Dauerhafteres.