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»Ja. Sie wird nicht mehr wach sein. Es ist zu spät für sie.«

»Wir werden sehen.«

Es dauerte nicht lange, bis ein Bote aus Elaynes Lager eintraf und einen kleinen gefalteten Brief brachte. Egwene las ihn und lächelte. »Komm«, sagte sie zu Gawyn, stand auf und packte ein paar Dinge ein. Sie schwenkte die Hand, und ein Wegetor zerschnitt die Luft.

»Wir Reisen dorthin?«, fragte Gawyn. »Das ist doch nur ein kurzer Weg.«

»Ein kurzer Spaziergang würde erfordern, dass die Amyrlin bei der Königin von Andor anklopft«, sagte Egwene, während Gawyn als Erster durch das Tor schritt und die andere Seite überprüfte. »Manchmal will ich nichts tun, das den Leuten Anlass gibt, Fragen zu stellen.«

Für diese Fähigkeit hätte Siuan gemordet, dachte sie, als sie durch das Wegetor schritt. Wie viele Pläne hätte diese Frau noch umsetzen können, hätte sie andere auf diese Weise so schnell, lautlos und mühelos besuchen können?

Auf der anderen Seite stand Elayne neben einer warmen Kohlenpfanne. Die Königin trug ein hellgrünes Kleid, und ihr Bauch war stark gewölbt durch die Kinder in ihrem Leib. Sie eilte zu Egwene und küsste ihren Ring. Birgitte stand mit verschränkten Armen neben dem Zelteingang; sie trug einen kurzen roten Mantel und himmelblaue Hosen. Ihr goldener Zopf lag über ihrer Schulter.

Gawyn sah seine Schwester mit gerunzelter Stirn an. »Es überrascht mich, dass du wach bist.«

»Ich warte auf einen Bericht«, erwiderte Elayne und bedeutete Egwene, sich zu ihr zu setzen. Neben der Kohlenpfanne standen zwei gepolsterte Stühle.

»Etwas Wichtiges?«, fragte Egwene.

Elayne runzelte die Stirn. »Jesamyn hat schon wieder vergessen, sich aus Caemlyn zu melden. Ich habe der Frau den strikten Befehl gegeben, mir alle zwei Stunden Bericht zu erstatten, und trotzdem tut sie es nicht. Beim Licht, vermutlich ist es ja nichts. Trotzdem bat ich Serinia, zum Reisegelände zu gehen, um nachzusehen. Ich hoffe, du hast nichts dagegen.«

»Du brauchst Ruhe«, sagte Gawyn und verschränkte die Arme.

»Vielen herzlichen Dank für den Rat«, sagte Elayne, »den ich ignorieren werde, so wie ich Birgitte ignorierte, als sie das Gleiche sagte. Egwene, was wolltest du besprechen?«

Egwene reichte ihr den Brief, den sie geschrieben hatte. Sie waren unter sich, da gab es keinen Platz für Förmlichkeiten.

»Für Rand?«, fragte Elayne.

»Du siehst ihn aus einem anderen Blickwinkel als ich. Sag mir, was du davon hältst. Vielleicht schicke ich ihm den Brief gar nicht. Ich habe mich noch nicht entschieden.«

»Der Ton ist … energisch«, bemerkte Elayne.

»Anders scheint er ja nicht zu reagieren.«

Nachdem Elayne zu Ende gelesen hatte, senkte sie das Blatt. »Vielleicht sollten wir ihn einfach tun lassen, was er will.«

»Die Siegel brechen?«, fragte Egwene. »Den Dunklen König befreien?«

»Warum nicht?«

»Beim Licht, Elayne!«

»Es muss geschehen, oder nicht? Ich meine, der Dunkle König wird entkommen. Er ist auch schon so gut wie frei.«

Egwene rieb sich die Schläfen. »Es ist ein Unterschied, ob man die Welt berührt oder frei ist. Im Krieg der Macht wurde der Dunkle König niemals ungehindert auf die Welt losgelassen. Der Stollen ließ ihn sie berühren, aber der wurde wieder versiegelt, bevor er entkommen konnte. Hätte der Dunkle König die Welt betreten, wäre das Rad selbst zerbrochen worden. Hier, ich habe dir das hier mitgebracht, um es dir zu zeigen.«

Egwene holte einen Papierstapel aus ihrer Tasche. Die Bibliothekarinnen des Dreizehnten Depositoriums hatten die Blätter eilig zusammengetragen. »Ich sage nicht, dass wir die Siegel nicht brechen sollten«, sagte sie. »Ich sage nur, dass wir uns es nicht leisten können, einen von Rands hirnverbrannten Plänen mit ihnen durchzuführen.«

Elayne lächelte liebevoll. Beim Licht, wie verliebt sie war. Ich kann mich doch auf sie verlassen, oder? Das war im Moment schwer bei Elayne zu sagen. Ihr Plan mit den Kusinen …

»Leider haben wir in deinem Bibliotheks-Ter’angreal nichts Relevantes finden können.« Die Statue des lächelnden bärtigen Mannes hatte in der Weißen Burg beinahe einen Aufruhr ausgelöst; jede Schwester hatte die Tausende von Büchern lesen wollen, die darin enthalten waren. »Sämtliche Bücher scheinen aus der Zeit vor der Bohrung des Stollens zu stammen. Sie werden weitersuchen, aber diese Notizen hier enthalten alles, was wir über die Siegel, den Kerker und den Dunklen König finden konnten«, fuhr Egwene fort. »Sollten wir die Siegel zum falschen Zeitpunkt brechen, könnte das womöglich das Ende von allem bedeuten. Hier, lies das.« Sie drückte Elayne eine Seite in die Hand.

»Der Karaethon-Zyklus?«, fragte Elayne neugierig. »›Und das Licht soll scheitern, und die Morgendämmerung wird nicht kommen, und noch immer wütet der Gefangene.‹ Der Gefangene ist der Dunkle König?«

»Ich glaube schon. Die Prophezeiungen drücken sich niemals klar aus. Rand will die Letzte Schlacht beginnen und die Siegel sofort brechen, aber das ist eine schreckliche Idee. Vor uns liegt ein langer Krieg. Den Dunklen König jetzt zu befreien wird die Streitmächte des Schattens stärken und uns schwächen.

Wenn es getan werden muss – und ich bin noch immer nicht davon überzeugt, dass das der Fall ist –, dann sollten wir bis zum letztmöglichen Augenblick warten. Zumindest müssen wir das diskutieren. Rand hat in vielem recht behalten, aber er hat sich auch geirrt. Das ist keine Entscheidung, die er allein treffen darf.«

Elayne blätterte die Papiere durch und verharrte plötzlich. »›Sein Blut soll uns das Licht geben …‹« Sie rieb mit dem Daumen über die Seite, als wäre sie in Gedanken versunken. »›Dient dem Licht.‹ Wer hat diese Notiz hinzugefügt?«

»Das ist Doniella Alievins Kopie der Übersetzung des Karaethon-Zyklus von Kyera Termendal«, sagte Egwene. »Doniella fügte ihre eigenen Anmerkungen hinzu, und sie waren Gegenstand von beinahe genauso vielen Debatten unter den Gelehrten wie die Prophezeiungen selbst. Sie war eine Wahrträumerin, musst du wissen. Die einzige Amyrlin, von der wir genau wissen, dass sie es war. Jedenfalls abgesehen von mir.«

Elayne nickte.

»Die Schwestern, die das für mich zusammenstellten, kamen zu demselben Schluss wie ich«, fuhr Egwene fort. »Es mag der Zeitpunkt kommen, an dem man die Siegel brechen muss, aber dieser Augenblick ist nicht zu Beginn der Letzten Schlacht, ganz egal, was Rand denkt. Wir müssen auf den richtigen Moment warten, und als die Wächterin über die Siegel ist es meine Pflicht, diesen Moment zu bestimmen. Ich werde die Welt nicht wegen Rands tollkühner Pläne riskieren.«

»Er hat schon etwas von einem Gaukler«, meinte Elayne liebevoll. »Du hast da ein sehr gutes Argument vorgebracht, Egwene. Trag es ihm vor. Er wird dir zuhören. Er hat einen wachen Verstand und kann überzeugt werden.«

»Wir werden sehen. Im Moment muss ich …«

Plötzlich versteifte sich Egwene, als sie fühlte, dass Gawyn beunruhigt war. Als sie zu ihm sah, drehte er sich gerade um. Draußen ertönte Hufgetrappel. Seine Ohren waren nicht besser als die ihren, aber es war seine Aufgabe, auf solche Dinge zu achten.

Egwene umarmte die Wahre Quelle, was Elayne veranlasste, ihrem Beispiel zu folgen. Birgitte hatte bereits den Zelteingang zurückgezogen und die Hand auf dem Schwertgriff.

Eine verschwitzte Botin sprang mit weit aufgerissenen Augen vom Pferd. Sie stürmte ins Zelt, und Birgitte und Gawyn setzten sich sofort an ihre Seite und behielten sie für den Fall im Auge, dass sie zu nahe kam.

Das tat sie nicht. »Caemlyn wird angegriffen, Euer Majestät«, stieß die Frau hervor und rang nach Luft.

»Was!« Elayne sprang auf die Füße. »Wie? Hat Jarid Sarand endlich …«

»Trollocs«, verkündete die Botin. »Es fing bei Einbruch der Abenddämmerung an.«

»Unmöglich!«, rief Elayne, packte die Botin am Arm und zerrte sie aus dem Zelt. Egwene schloss sich ihnen schnell an. »Die Abenddämmerung kam vor über sechs Stunden«, sagte Elayne zu der Botin. »Warum haben wir noch nichts davon gehört? Was ist mit den Kusinen geschehen?«