»Davon sagte mir niemand etwas, meine Königin«, berichtete die Botin. »Hauptmann Guybon schickte mich rasch los, um Euch zu holen. Er ist gerade durch ein Wegetor eingetroffen.«
Das Reisegelände war nicht weit von Elaynes Zelt entfernt. Eine Menschenmenge hatte sich versammelt, aber Männer und Frauen machten der Amyrlin und der Königin sofort Platz. In wenigen Augenblicken hatten sie die vorderste Reihe erreicht.
Eine Gruppe Männer in blutverschmierter Kleidung kam durch das geöffnete Wegetor und zog Karren, die mit Elaynes neuen Waffen beladen waren, den Drachen. Viele der Männer schienen kurz vor dem Zusammenbruch zu stehen. Sie stanken nach Rauch, ihre Haut war von Ruß geschwärzt. Nicht wenige von ihnen brachen zusammen, als Elaynes Soldaten die Karren, die eigentlich von Pferden hätten gezogen werden müssen, nahmen, um ihnen zu helfen.
In der Nähe öffneten sich weitere Wegetore, als Serinia Sedai und ein paar der stärkeren Kusinen – Egwene würde sie auf keinen Fall als Elaynes Kusinen betrachten – sie webten. Flüchtlinge strömten hindurch wie das Wasser eines unaufhaltsamen Flusses.
»Geh«, sagte Egwene zu Gawyn und öffnete selbst ein Wegetor – es führte zu dem Reisegelände im Lager der Weißen Burg in der Nähe. »Hole so viele Aes Sedai, wie wir zusammenbekommen. Sag Bryne, er soll seine Soldaten alarmieren, sie sollen Elaynes Befehlen gehorchen. Dann schickt sie durch Wegetore nach Caemlyn. Wir werden unsere Verbundenheit mit Andor zeigen.«
Gawyn nickte und duckte sich durch das Tor. Egwene ließ es verschwinden, dann gesellte sie sich zu Elayne, die bei den verwundeten, verwirrten Soldaten stand. Sumeko, eine der Kusinen, hatte das Kommando über das Heilen übernommen, damit man die Männer, die in unmittelbarer Lebensgefahr schwebten, versorgte.
In der Luft lag der Gestank von Rauch. Als Egwene zu Elayne eilte, fiel ihr Blick durch eines der geöffneten Wegetore. Caemlyn brannte.
Beim Licht! Einen Augenblick lang konnte sie bloß dastehen, dann eilte sie weiter. Elayne sprach mit Guybon, einem der Kommandanten der Königlichen Garde. Der Mann schien sich kaum noch auf den Beinen halten zu können, seine Kleidung und die Arme waren blutverschmiert.
»Schattenfreunde töteten zwei der Frauen, die Ihr zurückließet, um Botschaften zu schicken, Euer Majestät«, berichtete er mit müder Stimme. »Aber wir bargen die Drachen. Sobald wir … entkamen …« Etwas schien ihn zu schmerzen. »Sobald wir durch das Loch in der Stadtmauer entkamen, entdeckten wir, dass sich mehrere Söldnergruppen um die Stadt herum auf das Tor zu kämpften, das Lord Talmanes hatte verteidigen lassen. Zufällig waren sie nahe genug, um uns bei unserer Flucht zu helfen.«
»Das habt Ihr gut gemacht«, sagte Elayne.
»Aber die Stadt …«
»Das habt Ihr gut gemacht«, wiederholte Elayne energisch. »Ihr habt die Drachen geholt und all die Menschen gerettet? Ich werde dafür sorgen, dass man Euch dafür belohnt, Hauptmann.«
»Belohnt die Männer der Bande, Euer Majestät. Das war ihr Werk. Und bitte, wenn Ihr etwas für Lord Talmanes tun könnt …« Er zeigte auf den leblosen Mann, den mehrere Angehörige der Bande durch das Wegetor trugen.
Elayne kniete sich neben ihn, und Egwene gesellte sich zu ihr. Zuerst hielt sie ihn für tot, da seine Haut schwarz angelaufen war. Da holte er stockend Luft.
»Beim Licht!«, sagte Elayne und unterzog seinen reglosen Körper der Tiefenschau. »So etwas habe ich noch nie zuvor gesehen.«
»Thakan’dar-Klingen«, erklärte Guybon.
»Wir müssen uns verknüpfen«, sagte Elayne zu Egwene. »Vielleicht können wir gemeinsam etwas erreichen. Mutter?«
»Das übersteigt unsere Fähigkeiten«, sagte Egwene und stand auf. »Ich …« Sie unterbrach sich, als sie ein Geräusch vernahm, das das Stöhnen der Soldaten und Ächzen der Karren übertönte.
»Egwene?«, fragte Elayne.
»Tut für ihn, was ihr könnt«, sagte Egwene und eilte fort. Sie bahnte sich den Weg durch die aufgeregte Menge und folgte der Stimme. War das … ja, dort. Am Rand des Reisegeländes fand sie ein geöffnetes Wegetor, durch das Aes Sedai in verschiedenen Stadien der Bekleidung eilten, um sich um die Verwundeten zu kümmern. Gawyn hatte seine Arbeit gut gemacht.
Nynaeve fragte gerade ziemlich laut, wer hier das Kommando über dieses Chaos hatte. Egwene kam von der Seite, packte sie bei der Schulter und überraschte sie.
»Mutter?«, fragte Nynaeve. »Was soll das bedeuten, dass Caemlyn brennt? Ich …«
Sie unterbrach sich, als sie die Verletzten erblickte. Sie versteifte sich, dann wollte sie sich auf sie stürzen.
»Da gibt es einen, um den du dich zuerst kümmern musst«, sagte Egwene und führte sie zu Talmanes.
Nynaeve holte scharf Luft, dann ließ sie sich auf die Knie fallen und schob Elayne sanft zur Seite. Sie unterzog Talmanes der Tiefenschau, dann erstarrte sie mit weit aufgerissenen Augen.
»Nynaeve?«, sagte Egwene. »Kannst du …«
Eine Explosion aus Geweben brach aus Nynaeve hervor wie das plötzliche Aufblitzen der Sonne hinter dunklen Wolken. Nynaeve webte die Fünf Mächte zu einer strahlenden Säule zusammen und stieß sie in Talmanes.
Egwene überließ sie ihrer Arbeit. Vielleicht würde es helfen, obwohl er so gut wie tot aussah. Hoffentlich überlebte er das. Er hatte sie in der Vergangenheit sehr beeindruckt. Er schien genau die Sorte von Mann zu sein, den die Bande – und Mat – brauchten.
Elayne stand bei den Drachen und befragte eine Frau mit Zöpfen. Das musste Aludra sein, die die Drachen erfunden hatte. Egwene ging zu den Waffen und legte die Finger auf eines der langen Bronzerohre. Natürlich hatte sie Berichte darüber erhalten. Angeblich seien sie wie Aes Sedai, nur in Eisen gegossen und vom Pulver des Feuerwerks angetrieben.
Immer mehr Flüchtlinge strömten durch die Tore, viele davon Bürger der Stadt. »Beim Licht«, murmelte Egwene leise. »Das sind zu viele. Wir können nicht ganz Caemlyn hier in Merrilor unterbringen.«
Elayne beendete ihre Unterhaltung und ließ Aludra ihre Waffen inspizieren. Anscheinend war die Frau nicht dazu bereit, sich den Rest der Nacht auszuruhen und am Morgen bei ihnen zu melden. Elayne ging auf die Wegetore zu.
»Die Soldaten sagen, die Gegend vor der Stadt ist sicher«, sagte sie und ging an Egwene vorbei. »Ich werde es mir ansehen.«
»Elayne …« Birgitte lief hinter ihr her.
»Wir gehen! Komm schon.«
Egwene ließ die Königin gewähren und trat zurück, um die Arbeit zu überwachen. Romanda hatte den Befehl über die Aes Sedai übernommen und kümmerte sich um die Verletzten, teilte sie nach der Dringlichkeit ihrer Wunden in Gruppen ein.
Als Egwene ihre Blicke über das Chaos schweifen ließ, fielen ihr zwei Leute auf, die ein Stück abseits standen. Eine Frau und ein Mann, allem Anschein nach Illianer. »Was wollt ihr?«
Die Frau ging vor ihr auf die Knie. Sie hatte helle Haut und dunkle Haare, und ihre energischen Züge passten zu ihrer schlanken, hochgewachsenen Gestalt. »Ich bin Leilwin«, sagte sie mit einem unverkennbaren Akzent. »Ich begleitete Nynaeve Sedai, als der Aufruf zum Heilen erfolgte. Wir folgten ihr.«
»Ihr seid Seanchanerin«, sagte Egwene überrascht.
»Ich bin gekommen, um Euch zu dienen, Amyrlin.«
Seanchaner. Egwene hielt noch immer die Eine Macht. Beim Licht, nicht jede Seanchanerin, die ihr begegnete, war gefährlich; trotzdem würde sie kein Risiko eingehen. Als ein paar Männer der Burgwache durch ein Wegetor kamen, zeigte Egwene auf die beiden Seanchaner. »Bringt sie an einen sicheren Ort und passt auf sie auf. Ich kümmere mich später um sie.«
Die Soldaten nickten. Der Mann ging nur zögernd mit, die Frau bereitwillig, beinahe schon eifrig. Sie konnte nicht die Macht lenken, also war sie keine befreite Damane. Aber das bedeutete natürlich nicht, dass sie keine Sul’dam war.