DIESES ANGEBOT MACHE ICH NICHT NOCH EINMAL, sagte der Dunkle König.
»Das erwarte ich auch nicht von dir«, sagte Rand, als sein Körper zurückkehrte und die Fäden der Möglichkeiten verblassten.
Dann kam der richtige Schmerz.
Min wartete bei den versammelten seanchanischen Streitkräften. Offiziere schritten die Reihen mit Laternen ab, um die Männer vorzubereiten. Sie waren nicht nach Ebou Dar zurückgekehrt, sondern durch Wegetore auf eine große Ebene geflohen, die ihr unbekannt war. Hier wuchsen Bäume mit seltsamer Rinde und großen Farnwedeln. Sie vermochte nicht zu sagen, ob es sich wirklich um Bäume handelte oder bloß um große Farne. Das lag vor allem daran, dass alles verwelkt war; den Bäumen waren Blätter gewachsen, aber sie hingen herab, als hätten sie schon zu lange kein Wasser mehr gehabt. Min versuchte sich vorzustellen, wie sie wohl aussahen, wenn sie gesund waren.
Die Luft roch auch anders – nach ihr unbekannten Pflanzen und nach Meerwasser. Die seanchanischen Soldaten warteten in strenger Formation, bereit zum Abmarsch, jeder vierte Mann hatte eine Laterne, von denen aber nur eine von zehn entzündet war. Auch mit Wegetoren konnte man ein Heer nicht besonders schnell bewegen, aber Fortuona standen Hunderte Damane zur Verfügung. Der Rückzug war effizient vollzogen worden, und Min vermutete, dass die Rückkehr auf das Schlachtfeld genauso schnell vonstattenging.
Falls Fortuona sich zur Rückkehr entschied. Die Kaiserin saß auf einer Säule in der Nacht, war mit ihrer von blauen Laternen beleuchteten Sänfte dort hinaufbefördert worden. Es handelte sich nicht um einen Thron, sondern um eine strahlend weiße Säule von etwa sechs Fuß Höhe, die man oben auf einem kleinen Hügel errichtet hatte. Min hatte einen Sitz neben der Säule und bekam die eintreffenden Berichte mit.
»Diese Schlacht verläuft nicht gut für den Prinz der Raben«, sagte General Galgan. Er sprach vor Fortuona zu seinen Generälen, und er redete die Männer und Frauen direkt an, damit sie ihm antworten konnten, ohne die Kaiserin direkt anzusprechen. »Seine Bitte um unsere Rückkehr ist eben erst eingetroffen. Er hat viel zu lange gewartet, um unsere Hilfe zu suchen.«
»Ich spreche das nur zögernd aus«, meinte Yulan, »aber auch wenn die Weisheit der Kaiserin grenzenlos ist, fehlt mir doch die Zuversicht in den Prinzen. Er mag der auserwählte Gemahl der Kaiserin sein, und offensichtlich war er eine weise Wahl für diese Rolle. Aber in der Schlacht hat er sich als leichtsinnig erwiesen. Vielleicht beanspruchen ihn die Geschehnisse über Gebühr.«
»Ich bin sicher, dass er einen Plan hat«, sagte Beslan ernst. »Ihr müsst Mat vertrauen. Er weiß, was er tut.«
»Mich hat er beeindruckt«, meinte Galgan. »Die Omen scheinen ihn zu begünstigen.«
»Er verliert, Generalhauptmann«, widersprach Yulan. »Verliert schwer. Die Omen eines Mannes können sich schnell ändern, genau wie das Glück einer Nation.«
Min blickte den kleinen Lufthauptmann mit zusammengekniffenen Augen an. Er trug jetzt die beiden letzten Fingernägel einer jeden Hand lackiert. Er hatte den Angriff auf Tar Valon angeführt, und der Erfolg dieses Unternehmens hatte ihm bei Fortuona große Gunst eingebracht. Symbole und Omen wirbelten über seinem Kopf, genau wie bei Galgan – und tatsächlich sogar auch Beslan.
Beim Licht, dachte Min. Fange ich jetzt schon ernsthaft an, sie als Omen zu bezeichnen wie Fortuona? Ich muss von diesen Leuten weg. Sie sind verrückt.
»Meiner Ansicht nach betrachtet der Prinz diese Schlacht zu sehr als Spiel«, fuhr Yulan fort. »Auch wenn seine ersten Züge sehr scharfsinnig waren, hat er sich jetzt übernommen. Wie viele Männer standen schon am Dactolk-Tisch und wurden wegen ihrer Wetten bewundert, obwohl sie der reine Zufall fähig aussehen ließ? Der Prinz hat anfangs gewonnen, aber jetzt sehen wir, wie gefährlich es ist, auf seine Weise zu spielen.«
Yulan neigte den Kopf in Richtung Kaiserin. Seine Behauptungen wurden zusehends mutiger, da sie ihm keinen Anlass gab, sich zurückzuhalten. In dieser Situation war das für ihn ein Wink der Kaiserin, damit weiterzumachen.
»Ich habe … Gerüchte über ihn gehört«, sagte Galgan.
»Mat ist ein Spieler, ja«, gab Beslan zu. »Aber er ist ungewöhnlich gut darin. Er gewinnt, General. Bitte, Ihr müsst zurückgehen und helfen.«
Yulan schüttelte energisch den Kopf. »Die Kaiserin, möge sie ewig leben, hat uns aus guten Gründen vom Schlachtfeld abgezogen. Wenn der Prinz nicht einmal seinen eigenen Kommandoposten beschützen kann, hat er auch die Schlacht nicht im Griff.«
Immer kühner. Galgan rieb sich das Kinn, dann blickte er eine andere der Versammelten an. Min wusste nicht viel über Tylee. Sie hielt sich bei diesen Besprechungen stets zurück. Mit dem ergrauenden Haar und den breiten Schultern ging von der dunkelhäutigen Frau eine unbestimmbare Kraft aus. Das war eine Generalin, die ihre Soldaten viele Male selbst in die Schlacht geführt hatte. Die Narben bewiesen es.
»Diese Festländer kämpfen besser, als ich je gedacht hätte«, sagte Tylee. »Ich habe an der Seite von Cauthons Soldaten gekämpft. Ich glaube, sie werden Euch überraschen, General. Auch ich schlage demütig vor, dass wir zurückkehren und helfen.«
»Aber ist das im besten Interesse des Kaiserreiches?«, fragte Yulan. »Cauthons Truppen werden den Schatten schwächen, genau wie es der Marsch des Schattens von Merrilor nach Ebou Dar tun wird. Wir können die Trollocs unterwegs aus der Luft angreifen. Der lange Sieg sollte unser Ziel sein. Vielleicht können wir den Prinzen von Damane holen und in Sicherheit bringen lassen. Er schlug sich gut, aber in dieser Schlacht ist er dem Gegner nicht gewachsen.«
Min runzelte die Stirn und beugte sich vor. Eines der Bilder über Yulans Kopf … es war so seltsam. Eine Kette. Warum sollte er eine Kette über dem Kopf haben?
Er ist ein Gefangener, dachte sie plötzlich. Licht! Jemand zupft an seinen Saiten wie auf einem Instrument.
Mat fürchtete einen Spion. Min wurde es eiskalt.
»Die Kaiserin, möge sie ewig leben, hat ihre Entscheidung getroffen«, sagte Galgan. »Wir kehren zurück. Es sei denn natürlich, sie hat in ihrer Weisheit die Meinung geändert …?« Er wandte sich ihr mit einem fragenden Gesichtsausdruck zu.
Unser Spion kann die Macht lenken, erkannte Min und musterte Yulan. Dieser Mann steht unter einem Zwang.
Machtlenker. Schwarze Ajah? Eine Damane als Schattenfreundin? Ein Schattenlord? Es konnte jeder sein. Und der Spion würde sich aller Voraussicht nach mit einem Gewebe tarnen.
Wie sollte sie also diesen Spion jemals entlarven?
Ihre Visionen. Aes Sedai und andere Machtlenker verbreiteten stets Bilder. Immer. War darin ein Hinweis zu finden? Yulans Kette bedeutete, dass er jemandes Gefangener war, das verriet ihr der Instinkt. Also war er nicht der eigentliche Spion, sondern eine Marionette.
Sie fing mit den anderen Adligen und Generälen an. Natürlich hatten viele Omen über dem Kopf schweben, wie es für solche Leute nun einmal üblich war. Wie sollte sie etwas Ungewöhnliches entdecken? Min betrachtete die Menge, und ihr stockte der Atem, als ihr zum ersten Mal eine der So’jhin ins Auge fiel, eine jung aussehende Frau mit Sommersprossen. Über ihrem Kopf schwebte eine Reihe Bilder.
Die Frau war ihr unbekannt. Hatte sie hier die ganze Zeit über gedient? Sicherlich wäre ihr doch aufgefallen, wenn die Frau bereits zuvor in ihrer Nähe beschäftigt gewesen wäre. Menschen, die keine Machtlenker, Behüter oder Ta’veren waren, wiesen nur selten so viele Bilder auf. Ob sie nun bloß nicht daran gedacht oder es einfach übersehen hatte, sie war eben nicht auf den Gedanken gekommen, sich die Diener genau anzusehen.
Jetzt war ihr die Tarnung offensichtlich. Sie blickte weg, um nicht das Misstrauen der Frau zu erregen, und dachte über ihren nächsten Schritt nach. Ihr Instinkt flüsterte ihr zu, einfach anzugreifen, ein Messer zu ziehen und ohne Vorwarnung zu werfen. Falls diese Dienerin ein Schattenlord war – oder gar eine der Verlorenen, beim Licht! –, war ein unvermuteter Angriff vielleicht die einzige Möglichkeit, sie zu besiegen.