Aber es war durchaus möglich, dass die Frau unschuldig war. Min zerbrach sich den Kopf, dann stand sie einfach auf. Mehrere Angehörige des Blutes raunten über den Bruch der Etikette, aber sie ignorierte sie. Sie kletterte auf die Armlehne ihres Stuhls und balancierte dort, um auf gleicher Höhe mit Tuon zu sein. Sie beugte sich vor.
»Mat hat uns um unsere Rückkehr gebeten«, sagte sie leise. »Wie lange wollt Ihr noch darüber nachdenken, seinen Wunsch zu erfüllen?«
Tuon musterte sie. »Bis ich überzeugt bin, dass es für mein Kaiserreich das Beste ist.«
»Er ist Euer Gemahl.«
»Das Leben eines Mannes ist nicht das tausend anderer wert«, sagte Tuon, aber sie klang ehrlich besorgt. »Wenn die Schlacht tatsächlich so schlecht verläuft, wie Yulans Kundschafter sagen …«
»Ihr habt mich Wahrheitssprecherin genannt«, sagte Min. »Was bedeutet das genau?«
»Es ist Eure Pflicht, mich in der Öffentlichkeit zu tadeln, wenn ich etwas Falsches tue. Aber Ihr seid für diese Stellung nicht vorbereitet. Es wäre das Beste für Euch, Ihr haltet Euch zurück, bis ich für die richtige …«
Min wandte sich den Generälen und der versammelten Menge zu. Ihr Herz pochte wild. »Als Wahrheitssprecherin der Kaiserin Fortuona verkünde ich nun die Wahrheit. Sie hat die Heere der Menschheit im Stich gelassen, und sie verweigert in einer Zeit der Not ihre Stärke. Ihr Stolz wird die Vernichtung aller Menschen herbeiführen, auf der ganzen Welt.«
Das Blut sah sprachlos aus.
»So einfach ist das nicht, junge Frau«, sagte Galgan. Nach den Blicken der anderen zu urteilen, hatte er einer Wahrheitssprecherin nicht zu widersprechen. Trotzdem machte er weiter. »Das ist eine verworrene Situation.«
»Ich hätte mehr Verständnis«, sagte Min, »wüsste ich nicht, dass ein Spion des Schattens unter uns ist.«
Die sommersprossige So’jhin schaute abrupt auf.
Erwischt, dachte Min, dann zeigte sie auf General Yulan. »Abaldar Yulan, ich klage Euch an! Ich habe Omen gesehen, die mir beweisen, dass Ihr nicht zum Wohle des Kaiserreichs handelt!«
Die wahre Spionin entspannte sich, und Min entging nicht die Andeutung eines Lächelns auf ihren Lippen. Das reichte. Als Yulan lautstark gegen die Anschuldigung protestierte, ließ Min ein Messer in die Hand gleiten und schleuderte es auf die Frau.
Die Klinge wirbelte auf sie zu – und blieb kurz vor der Frau in der Luft hängen.
In der Nähe keuchten Damane und Sul’dam auf. Die Spionin warf Min einen hasserfüllten Blick zu, dann öffnete sie ein Wegetor und warf sich hinein. Gewebe der Macht flogen hinter ihr her, aber sie war verschwunden, bevor die meisten Versammelten überhaupt begriffen, was geschah.
»General Yulan, es tut mir leid«, verkündete Min, »aber Ihr leidet unter einem Zwang. Fortuona, es ist offensichtlich, dass der Schatten tut, was in seiner Macht steht, um uns von der Schlacht fernzuhalten. In Anbetracht dessen – verfolgt Ihr noch immer diesen Kurs der Unentschlossenheit?«
Min erwiderte Tuons Blick.
»Ihr spielt dieses Spiel sehr gut«, flüsterte Tuon mit eiskalter Stimme. »Wenn man bedenkt, dass ich um Eure Sicherheit besorgt war, weil ich Euch an meinen Hof brachte. Anscheinend hätte ich mich um mich selbst sorgen sollen.« Tuon seufzte kaum hörbar. »Ich schätze, Ihr gebt mir die Gelegenheit … vielleicht sogar den Auftrag … der Entscheidung meines Herzens zu folgen, ob sie nun klug ist oder nicht.« Sie stand auf. »General Galgan, sammelt Eure Truppen. Wir kehren zum Feld von Merrilor zurück.«
Egwene webte Erde und vernichtete die Felsen, hinter denen sich Sharaner versteckt hatten. Die anderen Aes Sedai schlugen sofort zu und schleuderten Gewebe durch die knisternde Luft. Die Sharaner starben in Feuer, Blitzen und Explosionen.
Dieser Hang der Polov-Anhöhe war dermaßen mit Geröll übersät und von Gräben durchzogen, dass er aussah wie die Trümmer einer Stadt nach einem Erdbeben. Noch immer war Nacht, und sie kämpften nun schon seit … Licht, wie lange war es jetzt her, dass Gawyn gestorben war? Stunden.
Egwene verdoppelte ihre Anstrengungen und weigerte sich, sich von dem Gedanken an ihn überwältigen zu lassen. Im Verlauf der letzten Stunden hatten ihre Aes Sedai und die Sharaner am Westhang Boden gewonnen und wieder verloren. Beharrlich drängte Egwene sie nach Osten.
Manchmal schien ihre Seite zu gewinnen, aber in letzter Zeit fielen immer mehr Aes Sedai ihrer Erschöpfung oder der Einen Macht zum Opfer.
Eine neue Gruppe Machtlenker trat aus den Rauchwolken und griff nach der Macht. Egwene konnte sie mehr fühlen als sehen.
»Wehrt ihre Gewebe ab!«, rief sie von ihrem Platz an der Front aus. »Ich greife an, ihr verteidigt!«
Die anderen Frauen gaben ihren Befehl entlang der Linie weiter. Sie kämpften nicht länger allein in Widerstandsnestern; Frauen sämtlicher Ajahs hatten sich zu beiden Seiten Egwenes in Reihen aufgestellt, ihre alterslosen Gesichter verrieten grimmige Konzentration. Vor ihnen standen Behüter. Feindliche Gewebe mit ihren Körpern abzufangen war der einzige Schutz, den sie jetzt bieten konnten.
Egwene fühlte Leilwin hinter sich näher kommen. Die neue Behüterin nahm ihre Pflichten sehr ernst. Eine Seanchanerin, die in der Letzten Schlacht als ihre Behüterin kämpfte. Warum nicht? Die Welt selbst löste sich auf. Die zahllosen Spalten zu ihren Füßen bewiesen das. Sie waren nicht wie zuvor verblichen – die Finsternis blieb jetzt. Hier war zu viel Baalsfeuer eingesetzt worden.
Egwene webte Feuer zu einer sich bewegenden, brausenden Wand. Leichen gingen in Flammen auf, als diese Wand über sie hinwegbrauste. Zurück blieben nur qualmende Knochenhaufen. Ihr Angriff verbrannte und schwärzte den Boden, und die Sharaner kamen zusammen, um diese Stränge zu bekämpfen. Sie tötete ein paar von ihnen, bevor sie den Angriff abwehren konnten.
Die anderen Aes Sedai wehrten die feindlichen Gewebe ab oder zerstörten sie, und Egwene sammelte ihre Kraft, um weiterzumachen. So müde …, wisperte ein Teil von ihr. Du bist so müde. Langsam wird das gefährlich.
Leilwin stolperte über einen zerborstenen Stein, gesellte sich dann an der Front zu ihr. »Ich überbringe eine Nachricht, Mutter«, sagte sie mit ihrem seanchanischen Akzent. »Die Asha’man haben die Siegel. Ihr Anführer trägt sie.«
Egwene atmete erleichtert auf. Sie webte Feuer und schickte es dieses Mal in Säulen auf den Weg. Die Flammen erhellten den zerstörten Boden vor ihnen. Die von M’Hael verursachten Spalten bereiteten ihr große Sorgen. Sie setzte zum nächsten Gewebe an, hielt aber inne. Etwas stimmte nicht.
Ein Strahl Baalsfeuer von der Dicke eines Männerarms fuhr durch die Reihen der Aes Sedai und löste ein halbes Dutzend Frauen auf. Wie aus dem Nichts brachen Explosionen über sie herein, und weitere Frauen starben innerhalb eines Herzschlages.
Das Baalsfeuer brannte Frauen weg, die die feindlichen Gewebe daran gehindert hatten, uns zu töten … aber diese Frauen wurden aus dem Muster entfernt, bevor sie die Abwehr weben und die Angriffe der Sharaner aufhalten konnten. Baalsfeuer brannte einen Faden rückwärts aus dem Muster.
Die folgende Ereigniskette war katastrophal. Sharanische Machtlenker, die eben noch tot gewesen waren, lebten plötzlich wieder und griffen an – Männer liefen geduckt wie Hunde über das zerstörte Terrain, Frauen gingen in verknüpften Gruppen zu viert oder fünft. Egwene suchte die Quelle des Baalsfeuers. Noch nie zuvor hatte sie einen so gewaltigen Strahl zu Gesicht bekommen, der so mächtig gewesen war, dass er Fäden ein paar Stunden zurück verbrannt haben musste.
Sie entdeckte M’Hael oben am Rand der Anhöhe. Die Luft verzerrte sich in einer Blase um ihn. Schwarze Tentakel schoben sich schlingpflanzengleich um ihn herum aus den Rissen im Stein. Eine sich ausbreitende Krankheit. Finsternis. Das Nichts. Es würde sie alle verschlingen.