Ein weiterer Strahl Baalsfeuer brannte ein Loch durch den Boden und berührte Frauen, ließ ihre Umrisse aufglühen und sie dann verschwinden. Die Luft selbst zerbrach, als wäre sie eine Blase der Macht, die von M’Hael ausging. Der Sturm kehrte zurück, nur stärker.
»Ich dachte, ich hätte dir beigebracht, dich zu verkriechen«, knurrte Egwene und sammelte ihre Kraft. Der Boden zu ihren Füßen brach auseinander und führte ins Nichts.
Licht! Sie konnte die Leere dieses Lochs fühlen. Sie setzte zum nächsten Gewebe an, aber ein weiterer Strahl Baalsfeuer loderte über das Schlachtfeld und tötete Frauen, die sie geliebt hatte. Das nachfolgende Beben schleuderte sie in die Luft. Schreie wurden immer lauter, als die Sharaner ihre Leute abschlachteten. Aes Sedai rannten auseinander und versuchten sich in Sicherheit zu bringen.
Die Bodenspalten breiteten sich aus, als wäre das Plateau von einem riesigen Hammer getroffen worden.
Baalsfeuer. Sie musste es selbst einsetzen. Nur so konnte sie ihn bekämpfen! Sie erhob sich auf die Knie und fing an, das verbotene Gewebe zu weben, obwohl sich dabei etwas in ihrem Inneren verkrampfte.
NEIN. Der Einsatz von Baalsfeuer würde die Welt nur weiter ihrer Vernichtung entgegenführen.
Aber was dann?
Es ist doch nur ein Gewebe, Egwene. Perrins Worte, als er ihr in der Welt der Träume begegnet war und einen Treffer Baalsfeuer einfach verhindert hatte. Aber es war nicht nur ein weiteres Gewebe. Es gab nichts Vergleichbares.
So erschöpft. Jetzt, da sie kurz innegehalten hatte, konnte sie die lähmende Müdigkeit spüren. Tief in ihrem Inneren pulsierte der bittere Verlust durch Gawyns Tod.
»Mutter!«, rief Leilwin und zerrte an ihrer Schulter. Die Frau war bei ihr geblieben. »Mutter, wir müssen gehen! Die Aes Sedai weichen zurück! Die Sharaner überrennen uns.«
Über ihr entdeckte M’Hael sie. Er lächelte und setzte sich in Bewegung, in der einen Hand ein Zepter, mit der erhobenen Handfläche der anderen auf sie deutend. Was würde geschehen, wenn er sie mit Baalsfeuer wegbrannte? Die letzten beiden Stunden würden verschwinden. Wie sie die Aes Sedai gesammelt hatte, die Aberdutzende Sharaner, die sie getötet hatte …
Nur ein Gewebe …
Nichts Vergleichbares.
Aber so funktioniert das nicht, dachte sie. Jede Münze hat zwei Seiten. Die beiden Hälften der Macht. Heiß und kalt, Licht und Dunkel, Frau und Mann.
Für jedes Gewebe muss es also auch das Gegenteil geben.
M’Hael schleuderte Baalsfeuer, und Egwene tat … etwas. Das Gewebe, das sie bereits zuvor an den Bodenspalten ausprobiert hatte, jetzt aber mit viel mehr Macht und Reichweite gewebt: ein majestätisches, wunderbares Gewebe, eine Kombination aller Fünf Mächte. Es glitt vor sie. Sie schrie auf, ließ es los, eine weiße Säule von makelloser Reinheit, die der Tiefe ihrer Seele zu entspringen schien. Sie traf M’Haels Gewebe genau in seinem Zentrum.
Die beiden löschten einander aus, als würde man kochendes und eiskaltes Wasser zusammenschütten. Ein mächtiger Lichtblitz überwältigte alles andere und blendete Egwene, aber das, was sie da tat, vermittelte ihr einen genauen Eindruck. Das Muster wurde gestützt. Die Risse breiteten sich nicht weiter aus, eine stabilisierende Kraft quoll in ihnen nach oben. Eine Wucherung, wie Schorf auf einer Wunde. Keine perfekte Heilung, aber zumindest ein Pflaster.
Egwene schrie auf und zwang sich auf die Füße. Sie würde sich ihm nicht auf den Knien stellen! Sie zog jeden Fetzen Macht in sich, den sie halten konnte, und warf sich dem Verlorenen mit dem Zorn der Amyrlin entgegen.
Die beiden Ströme der Macht schleuderten Licht gegeneinander, und um M’Hael herum zerbrach der Boden, während er sich um Egwene herum wieder neu formte. Sie wusste noch immer nicht, was sie da eigentlich webte. Das Gegenteil von Baalsfeuer. Ihr eigenes Feuer, ein Gewebe aus Licht und Erneuerung.
Die Flamme von Tar Valon.
Einen endlos erscheinenden Augenblick lang standen sie wie erstarrt da und waren einander ebenbürtig. In diesem Augenblick breitete sich in Egwene tiefer Friede aus. Der Schmerz über Gawyns Tod verblich. Er würde wiedergeboren. Das Muster würde weitergehen. Dieses Gewebe, das sie da gewebt hatte, besänftigte ihren Zorn und ersetzte ihn durch Frieden. Sie schöpfte noch tiefer in Saidar, diesem leuchtenden Trost, der sie so lange geführt hatte.
Und sie füllte sich mit noch mehr von der Einen Macht.
Wie ein Schwertstich bahnte sich ihr Strom durch M’Haels Baalsfeuer, stieß es einfach zur Seite und reiste den Strahl entlang in seine ausgestreckte Hand. Er durchbohrte erst sie und dann seine Brust.
Das Baalsfeuer verschwand. M’Hael keuchte auf, taumelte mit weit aufgerissenen Augen, und dann verwandelte er sich von innen heraus in Kristall. Als würde er zu Eis gefrieren. Ein wunderschöner vielfarbiger Kristall wuchs aus seinem Körper. Ungeschliffen und grob, als käme er aus dem Kern der Erde selbst. Irgendwie wusste Egwene, dass die Flamme bei jemandem, der sich nicht dem Schatten verschworen hatte, eine weit geringere Wirkung haben würde.
Sie klammerte sich an der Macht fest, die sie hielt. Sie hatte zu viel aufgenommen. Sie wusste genau, dass sie in dem Moment, in dem sie ihren Griff lockerte, ausbrennen und nie wieder auch nur einen Tropfen davon lenken würde. In diesem letzten Augenblick loderte die Eine Macht in ihr.
Weit im Norden erbebte etwas. Rands Kampf ging weiter. Die Risse im Land breiteten sich weiter aus. M’Hael und Demandreds Baalsfeuer hatten ihr Werk getan. Die Welt zerbröckelte. Schwarze Linien rasten über die Anhöhe, und Egwene sah sie vor ihrem inneren Auge aufklaffen, sah, wie das Land zerbrach und ein Nichts erschien, das sämtliches Leben in sich hineinzog.
»Haltet Ausschau nach dem Licht«, flüsterte sie.
»Mutter?« Noch immer kniete Leilwin an ihrer Seite. Um sie herum standen Hunderte Sharaner wieder auf.
»Haltet Ausschau nach dem Licht, Leilwin«, sagte Egwene. »Als Amyrlin-Sitz befehle ich Euch – findet die Siegel des Dunklen Königs Kerker und zerbrecht sie. Tut es in dem Augenblick, in dem das Licht leuchtet. Nur dann kann es uns retten.«
»Aber …«
Egwene webte ein Wegetor, umschlang Leilwin mit Luft und stieß sie in Sicherheit. Dabei löste sie den Behüterbund mit der Frau und trennte ihre kurze Verbindung.
»Nein!«, rief Leilwin.
Das Wegetor schloss sich. Schwarze Spalten ins Nichts breiteten sich um Egwene herum aus, als sie sich den Hunderten Sharanern stellte. Ihre Aes Sedai hatten heldenmutig und mit aller Kraft gekämpft, aber die sharanischen Machtlenker gab es noch immer. Sie umzingelten sie, einige zaghaft, andere mit einem triumphierenden Lächeln.
Sie schloss die Augen und zog noch mehr Macht in sich hinein. Mehr, als eine Frau fähig sein sollte, mehr, als richtig war. Jenseits jeder Sicherheit, jenseits jeder Vernunft. Ihr Sa’angreal hatte keinen Puffer, um so etwas zu verhindern.
Ihr Körper war verbraucht. Sie gab ihn auf und verwandelte sich in eine Säule aus Licht, in die Flamme von Tar Valon, die sich tief in den Boden senkte und hoch in den Himmel schoss. Die Macht verließ sie in einer lautlosen, wunderschönen Explosion, schlug wie eine Welle über den Sharanern zusammen und versiegelte die Spalten, die der Kampf mit M’Hael geschaffen hatte.
Egwenes Seele trennte sich von ihrem zusammenbrechenden Körper und streckte sich auf dieser Welle aus, ritt darauf ins Licht.
Egwene starb.
Rand schrie vor Verdrängung, vor Zorn, vor Trauer.
»Nicht sie! NICHT SIE!«
DIE TOTEN GEHÖREN MIR.
»Shai’tan!«, schrie Rand. »Nicht sie!«
ICH WERDE SIE ALLE TÖTEN, WIDERSACHER.
Rand krümmte sich zusammen und kniff die Augen zu. Ich beschütze dich, dachte er. Was auch sonst geschehen mag, ich sorge für deine Sicherheit, ich schwöre es. Ich schwöre es …