Mit fertiger Verkleidung Reiste sie zu den hinteren Linien der sharanischen Armee, die gegen Cauthons Truppen kämpften. Hier waren die Reserveeinheiten, die darauf warteten, zur Front gerufen zu werden, außerdem Versorgungswagen und einige der Verwundeten.
Die Sharaner hielten mit der Sichtung des Nachschubs inne und starrten sie an. Sie trafen tatsächlich Vorbereitungen, vom Schlachtfeld zu fliehen. Wie alle anderen auch waren sie sich bewusst, dass die große seanchanische Armee in den Kampf eingegriffen hatte. Moghedien fiel auf, dass eine Handvoll Ayyad bei der Gruppe war – nur drei, die sie sehen konnte. Zwei Frauen mit Tätowierungen und ein schmutziger Mann, der zu ihren Füßen kauerte. Die meisten von ihnen waren beim Kampf mit den Aes Sedai getötet worden.
Die Seanchaner. Der Gedanke an sie und ihre herrische Anführerin ließ Moghedien sich innerlich winden. Wenn der Große Herr den Schlamassel entdeckte, den sie angerichtet hatte …
Nein. Er hatte ihr die Wahre Macht verliehen. Moghedien hatte die anderen überlebt, und im Augenblick war das das Einzige, was zählte. Er konnte nicht überall hinsehen und wusste vermutlich noch nicht, dass man sie entlarvt hatte. Wie hatte das Mädchen nur ihre Verkleidung durchschauen können? Das hätte unmöglich sein sollen.
Jemand musste sie verraten haben. Aber sie hatte während der Schlacht eng mit Demandred zusammengearbeitet, und auch wenn sie nie eine so gute Taktikerin wie er gewesen war – das war mit Ausnahme von Sammael keiner gewesen –, verstand sie diese Schlacht gut genug, um den Befehl zu übernehmen. Sie verabscheute es, das tun zu müssen, denn es entblößte sie auf eine Weise, die ihr nicht gefiel. Aber verzweifelte Zeiten verlangten nach verzweifelten Maßnahmen.
Und wenn sie so darüber nachdachte, liefen die Dinge eigentlich ganz gut für sie. Demandred gefallen, besiegt von seinem eigenen Stolz. M’Hael, dieser Emporkömmling, war auch tot – und hatte bequemerweise die Anführerin der Aes Sedai vom Schlachtfeld entfernt. Sie verfügte noch immer über den größten Teil von Demandreds Schattengezücht und ein paar Schattenlords, einige Schwarze Ajah und ein Dutzend der Umgedrehten Männer, die M’Hael mitgebracht hatte.
»Das ist er nicht!«, rief ein älterer Mann im Gewand eines sharanischen Mönchs. Er zeigte auf Moghedien. »Das ist nicht unser Wyld! Das ist …«
Moghedien verbrannte den Mann zu Asche.
Als seine Knochen zu Boden purzelten, kam ihr die flüchtige Erinnerung an Berichte ihrer Augen-und-Ohren, dass Demandred dem alten Mann ein gewisses Wohlwollen gezeigt hatte. »Besser, Ihr sterbt«, sagte sie mit Demandreds Stimme zu der Leiche, »als zu leben und den zu verleugnen, den Ihr hättet lieben sollen. Will mich sonst noch jemand verleugnen?«
Die Sharaner schwiegen.
»Ayyad«, sagte Moghedien zu den drei Machtlenkern, »habt Ihr mich Gewebe erschaffen sehen?«
Beide Frauen und der schmutzige Mann schüttelten die Köpfe.
»Ich töte ohne Gewebe«, sagte Moghedien, »nur ich, Euer Wyld, hätte das tun können.«
Sie musste sich daran erinnern, nicht zu lächeln, nicht einmal im Sieg, als die Leute die Köpfe neigten. Demandred war immer ernst. Als die Leute auf die Knie fielen, musste Moghedien ihre Freude gewaltsam unterdrücken. Ja, Demandred hatte gute Arbeit geleistet und ihr die Armee einer ganzen Nation zum Spielen hinterlassen. Das würde in der Tat gut laufen!
»Drachentöter«, sagte eine kniende Ayyad. Sie weinte! Wie schwach diese Sharaner doch waren! »Wir sahen Euch sterben …«
»Wie könnte ich sterben? Ihr kennt die Prophezeiungen, oder nicht?«
Die Frauen sahen einander an. »Sie sagen, dass Ihr kämpfen werdet, Drachentöter«, sagte die Frau. »Aber …«
»Holt fünf Fäuste Trollocs von den hinteren Linien«, wandte sich Moghedien an den Kommandanten der Reserveeinheit, »und schickt sie flussaufwärts zu den Ruinen.«
»Die Ruinen?«, fragte der Mann. »Dort sind nur die Flüchtlinge aus Caemlyn.«
»Genau, Ihr Narr. Flüchtlinge – Kinder, Alte, Frauen, die nach Toten suchen. Sie sind wehrlos. Sagt den Trollocs, sie sollen sie niedermetzeln. Unsere Feinde sind schwach; ein derartiger Angriff wird sie zum Rückzug zwingen, um jene zu beschützen, die wahre Krieger einfach sterben lassen würden.«
Der General nickte, und sie sah Anerkennung in seiner Miene. Er akzeptierte sie als Demandred. Gut. Er rannte los, um die Befehle zu geben.
»Also weiter«, sagte Moghedien, als in der Ferne wieder die Drachen feuerten, »warum ist kein Ayyad aufgebrochen, um diese Waffen zu zerstören?«
Die vor ihr kniende Ayyad senkte den Kopf. »Von uns sind nicht einmal mehr ein Dutzend übrig, Wyld.«
»Eure Entschuldigungen sind schwach«, sagte Moghedien und lauschte, als die Explosionen verstummten. Vielleicht hatten ja gerade ein paar von M’Haels Schattenlords das Problem der Drachen gelöst.
Ihre Haut juckte, als der sharanische Kommandant über das Feld auf einen Myrddraal zuging. Sie verabscheute es mit jeder Faser ihres Seins, auf diese Weise in die Öffentlichkeit treten zu müssen. Sie war dazu bestimmt, im Schatten zu bleiben, andere die Schlacht anführen zu lassen. Allerdings hätte sie sich niemals nachsagen lassen, dass sie, falls es die Umstände erforderten, zu viel Angst hatte, um …
Hinter ihr schnitt sich ein Wegetor in die Luft, und mehrere Sharaner schrien auf. Moghedien fuhr herum und starrte in etwas, das nur eine dunkle Höhle sein konnte. Drachen ragten daraus empor.
»Feuer!«, befahl eine Stimme.
»Das Tor zu!«, rief Talmanes, und das Portal schloss sich.
»Das war eine von Lord Mats Ideen, richtig?«, rief Daerid, der neben Talmanes stand, während die Drachen nachgeladen wurden. Sie beide hatten sich Wachs in die Ohren gesteckt.
»Was glaubt Ihr denn?«, rief Talmanes zurück.
Wenn die Drachen beim Abschuss verletzlich waren, was tat man dann? Man schoss sie aus einem Versteck ab.
Talmanes lächelte, als Neald vor zehn Drachen das nächste Wegetor öffnete. Es war völlig unerheblich, dass so viele Drachenkarren zu kaputt waren, um vernünftig fahren zu können, wenn man einfach vor ihnen ein Wegetor in jede gewünschte Richtung machen konnte.
Dieses Tor öffnete sich vor mehreren Fäusten Trollocs, die verbissen gegen Weißmäntel kämpften. Einige Kreaturen starrten die Drachen entsetzt an.
»Feuer!«, brüllte Talmanes und riss die Hand nach unten, um seinen Befehl für den Fall, dass ihn die Männer nicht hören konnten, zu unterstreichen.
Rauch erfüllte die Höhle, und Explosionen dröhnten gegen Talmanes’ Ohrenstöpsel, als die Drachen zurückrollten und einen Sturm des Todes in die Trollocs entluden. Sie trafen die Fäuste mit einer Breitseite, fegten sie aus dem Weg und ließen sie sterbend und zerbrochen am Boden liegen. Die Weißmäntel in der Nähe schwenkten die Schwerter und jubelten.
Neald schloss das Wegetor, und die Drachenmänner luden ihre Waffen. Der Asha’man öffnete ein Tor über ihnen, um den Drachenrauch aus der Höhle zu befördern und irgendwo in weiter Ferne in den freien Himmel zu entlassen.
»Lächelt Ihr etwa?«, fragte Daerid.
»Ja«, sagte Talmanes zufrieden.
»Blut und verdammte Asche, Lord Talmanes … das sieht bei Euch beängstigend aus.« Daerid zögerte. »Vielleicht solltet Ihr das öfter versuchen.«
Talmanes grinste, als Neald das nächste Tor zu einer Stelle auf dem Dasharfels öffnete, wo Aludra mit Fernrohren und Kundschaftern stand und das nächste Ziel suchte. Sie rief eine Position, Neald nickte, und sie bereiteten die nächste Salve vor.
42
Unmögliche Dinge
Aviendha hatte das Gefühl, die Welt selbst würde auseinanderbrechen, würde verschlungen.
Die Blitze, die auf das Tal von Shayol Ghul hagelten, waren nicht länger unter Kontrolle. Weder unter der der Windsucherinnen noch von sonst jemandem. Sie töteten sowohl Schattengezücht wie auch Verteidiger. Unvorhersehbar. Die Luft stank nach Feuer, verbranntem Fleisch und etwas anderem – einem unverkennbaren, sauberen Geruch, den sie mittlerweile als den Geruch eines einschlagenden Blitzes erkannte.