Aber die Kampfhandlungen auf der shienarischen Seite des Mora waren nichts verglichen mit dem Kampf, der auf der anderen Flussseite tobte. In dem Korridor zwischen dem Moor und der Polov-Anhöhe drängte sich das Schattengezücht, das den Seanchanern zu entkommen versuchte, die sie aus dem Westen angriffen.
Die Vorhut, die zuerst gegen die Trollocs in den Korridor geschickt wurde, setzte sich nicht aus seanchanischen Soldaten zusammen, sondern aus Abteilungen Lopar und Morat’lopar. Aufgerichtet auf die Hinterbeine waren Lopar nicht größer als Trollocs, aber sie waren beträchtlich schwerer. Die Lopar richteten sich auf und schlugen mit ihren rasiermesserscharfen Krallen auf die Tiermenschen ein. Sobald ein Lopar den ersten Widerstand seiner Beute gebrochen hatte, packte er den Trolloc mit den Tatzen im Nacken und biss der Bestie den Kopf ab. Das bereitete den Lopar großes Vergnügen.
Die Lopar wurden zurückgeholt, als sich immer mehr Trolloc-Kadaver am Korridorende aufschichteten. Als Nächstes schickte man Schwärme von Corlm in diese Schlachtgrube, große, schwingenlose, gefiederte Kreaturen mit langen gekrümmten Schnäbeln, die dazu bestimmt waren, Fleisch zu zerfetzen. Diese Fleischfresser setzten mühelos über die Leichenstapel hinweg auf die noch kämpfenden Trollocs zu, um den Bestien das Fleisch von den Knochen zu reißen. Die seanchanischen Soldaten taten kaum etwas dabei, sondern stellten bloß Piken auf, um dafür zu sorgen, dass keine Trollocs durch den Korridor oder über die Westseite der Anhöhe entkamen. Die sie angreifenden Kreaturen brachten das Schattengezücht derart aus dem Gleichgewicht, dass nur wenige Lust verspürten, auf die seanchanischen Truppen zuzurücken.
Die von Panik ergriffen Tiermenschen, die von Mats Heer den Hügel hinuntergejagt wurden, warfen sich notgedrungen auf ihre Artgenossen im Korridor. Ein schreckliches Gedränge entstand, und sie fingen an übereinanderzuklettern, weil jeder oben sein wollte, um nicht zerquetscht zu werden und noch etwas länger atmen zu können.
Talmanes und Aludra hatten ihre Drachen auf den Korridor gerichtet und fingen an, Dracheneier in die brodelnde Masse furchterfüllter Trollocs zu feuern.
Es war schnell vorbei. Die Zahl an lebenden Tiermenschen verringerte sich von vielen Tausenden auf nur noch Hunderte. Die übrig gebliebenen sahen sich dem Tod von drei Seiten ausgesetzt und flohen ins Moor, wo viele in die Tiefe gezogen wurden. Ihr Tod war weniger gewalttätig, dafür aber genauso schrecklich. Der Rest bekam ein etwas gnädigeres Ende, sie wurden mit Pfeilen, Speeren und Armbrustbolzen erlegt, während sie durch den Schlamm dem süßen Geruch der Freiheit entgegenstapften.
Mat senkte den blutverschmierten Ashandarei. Er schaute zum Himmel. Irgendwo dort oben verbarg sich die Sonne; er war sich nicht sicher, wie lange er nun schon mit den Helden geritten war.
Er würde sich bei Tuon für ihre Rückkehr bedanken müssen. Allerdings machte er sich nicht auf, sie zu suchen. Er hatte das dumme Gefühl, dass sie von ihm erwarten würde, seinen prinzlichen Pflichten nachzukommen, wie auch immer die aussehen mochten.
Nur … da war dieser seltsame Lockruf in ihm. Der immer stärker wurde.
Blut und verdammte Asche, Rand, dachte er. Ich habe meinen Teil erledigt. Du tust deinen.
Amaresus Worte fielen ihm ein. Jeden Eurer Atemzüge verdankt Ihr ihm, Spieler …
Er war doch ein guter Freund gewesen, wenn Rand ihn gebraucht hatte, oder etwa nicht? Zumindest meistens? Blut und Asche, man konnte doch wohl nicht von jemandem erwarten, dass er sich keine Sorgen machte … und vielleicht ein bisschen Abstand hielt … wenn man es mit einem Verrückten zu tun hatte. Oder?
»Falkenflügel!«, rief Mat und ritt zu dem Mann. »Die Schlacht«, sagte er und holte tief Luft. »Sie ist zu Ende, nicht wahr?«
»Ihr habt sie festgezurrt, Spieler«, sagte Falkenflügel, der majestätisch auf seinem Pferd saß. »Ah … was würde ich darum geben, Euch einmal auf einem Schlachtfeld gegenüberzustehen. Welch großartiger Kampf das doch würde.«
»Toll. Wunderbar. Ich meinte nicht dieses Schlachtfeld. Ich meinte die Letzte Schlacht. Sie ist zu Ende, richtig?«
»Ihr fragt das unter einem schattenverhüllten Himmel, auf einem Erdboden, der vor Furcht zittert? Was sagt Euch denn Eure Seele, Spieler?«
Noch immer klapperten diese Würfel in Mats Kopf.
»Meine Seele sagt mir, dass ich ein Narr bin«, knurrte Mat. »Das und ein verfluchter Übungssack, der aufgestellt darauf wartet, von den Rekruten attackiert zu werden.« Er schaute nach Norden. »Ich muss zu Rand. Falkenflügel, würdet Ihr mir einen Gefallen tun?«
»Gern, Spieler.«
»Kennt Ihr die Seanchaner?«
»Sie sind mir … vertraut.«
»Ich glaube, ihre Kaiserin würde Euch nur zu gern kennenlernen«, sagte Mat und trieb Pips an. »Ich würde es zu schätzen wissen, wenn Ihr mit ihr sprechen könntet. Und wenn Ihr das macht, sagt ihr doch freundlicherweise, dass ich Euch geschickt habe.«
GLAUBST DU, ICH ZIEHE MICH ZURÜCK?, fragte der Dunkle König.
Das Ding, das da sprach, würde Rand niemals völlig begreifen können. Selbst das Universum in seinem ganzen Ausmaß sehen zu können erlaubte ihm nicht, das Böse selbst zu begreifen.
ICH HABE NIE ERWARTET, DASS DU DICH ZURÜCKZIEHST, sagte Rand. DAZU BIST DU MEINER MEINUNG NACH GAR NICHT FÄHIG. ICH WÜNSCHTE, DU KÖNNTEST WIRKLICH VERSTEHEN, WARUM DU IMMER VERLIERST.
Auf dem Schlachtfeld unter ihnen waren die Trollocs gefallen, geschlagen von einem jungen Spieler von den Zwei Flüssen. Der Schatten hätte nicht verlieren dürfen. Es ergab keinen Sinn. Die Trollocs waren in der Übermacht gewesen.
Aber die Tiermenschen kämpften nur, weil die Myrddraal sie dazu zwangen – allein auf sich gestellt würde ein Trolloc genauso wenig einen stärkeren Gegner bekämpfen, wie ein Fuchs versuchen würde, einen Löwen zu töten.
Das war eine der am tiefsten verankerten Regeln unter Raubtieren. Friss, was schwächer ist als du. Flüchte vor den Stärkeren.
Der Dunkle König wurde von einem brodelnden Zorn gepackt, den Rand an diesem Ort als eine körperliche Macht empfand.
DU SOLLTEST NICHT ÜBERRASCHT SEIN, sagte Rand. WANN HAST DU JE DAS BESTE IM MENSCHEN ZUM VORSCHEIN GEBRACHT? DAS KANNST DU NICHT. DAS LIEGT AUSSERHALB DEINER MACHT, SHAI’TAN. DEINE HANDLANGER WERDEN NIEMALS WEITERKÄMPFEN, WENN ALLE HOFFNUNG VERLOREN IST. SIE WERDEN NIEMALS STANDHALTEN, DENN DAS ZU TUN WÄRE JA DAS RICHTIGE. NICHT STÄRKE SCHLÄGT DICH. ES IST MENSCHLICHE GRÖSSE.
ICH WERDE ALLES VERNICHTEN! ICH WERDE ZERSTÖREN UND VERBRENNEN! ICH BRINGE ALLEM DIE DUNKELHEIT, UND DER TOD WIRD MEINE FANFARE SEIN, DIE ICH VOR MEINER ANKUNFT ERSCHALLEN LASSE! UND DU, WIDERSACHER … ANDERE MÖGEN JA ENTKOMMEN, ABER DU WIRST STERBEN. DAS MUSST DU WISSEN.
ABER DAS TUE ICH DOCH, SHAI’TAN, erwiderte Rand leise. ICH UMARME ES, DENN TOD IST UND WAR IMMER LEICHTER ALS EINE FEDER. DER TOD KOMMT IN EINEM HERZSCHLAG, NICHT GREIFBARER ALS EIN FLACKERN DES LICHTS. ER HAT KEIN GEWICHT, KEINE SUBSTANZ …
Rand setzte sich in Bewegung und sprach lauter. DER TOD KANN MICH NICHT ABHALTEN, UND ER KANN MICH AUCH NICHT BEHERRSCHEN. DARAUF LÄUFT ES AM ENDE HINAUS, VATER DER LÜGEN. WANN HAST DU JE EINEN MENSCHEN DAZU INSPIRIERT, SEIN LEBEN FÜR DICH ZU GEBEN? NICHT FÜR DEINE VERSPRECHUNGEN, NICHT FÜR DEN REICHTUM, DEN ER SUCHTE, ODER DIE STELLUNG, DIE ER EINNEHMEN WÜRDE, SONDERN FÜR DICH? IST DAS JEMALS GESCHEHEN?
Die Finsternis verstummte.
BRING MIR DEN TOD, SHAI’TAN, knurrte Rand und warf sich in das schwarze Nichts. DENN ICH BRINGE IHN AUCH DIR!
Aviendha stürzte auf einen Felsvorsprung weit über der Talsohle von Thakan’dar. Sie stand auf, aber ihre zerschmetterten Füße vermochten ihr Gewicht nicht zu tragen. Sie brach zusammen, und der Lichtspeer löste sich in ihren Fingern auf. Ihre Beine fühlten sich an, als hielte man sie ins Feuer.