Graendal stolperte vor ihr zurück, holte keuchend Luft und hielt sich die Seite. Augenblicklich webte Aviendha einen Angriff, aber die Verlorene wehrte ihn sofort mit einem Gewebe ab.
»Du!«, stieß Graendal hervor. »Du Insekt, du widerwärtiges Kind!« Die Frau war verletzt, aber noch immer stark.
Aviendha brauchte Hilfe. Amys, Cadsuane, die anderen. Trotz ihrer Schmerzen klammerte sie sich verzweifelt an die Eine Macht und fing an, ein Wegetor zu weben, das sie zu der Stelle zurückbrachte, von der sie gekommen war. Die lag nahe genug, um das Terrain nicht exakt kennen zu müssen.
Graendal ließ sie gewähren. Blut strömte zwischen ihren Fingern hervor. Während Aviendha arbeitete, webte sie einen dünnen Strang Luft und verstopfte die Wunde damit. Dann zeigte sie mit blutigen Fingern auf Aviendha. »Ein Fluchtversuch?«
Die Verlorene setzte zu einer Abschirmung an.
Hektisch und mit schwindender Kraft verknotete Aviendha das Gewebe und ließ das Wegetor dort offen schweben. Bitte, Amys, sieh es!, dachte sie, als sie sich gegen Graendals Abschirmung wehrte.
Sie vermochte sie kaum zu blockieren; sie war sehr schwach. Den ganzen Kampf über hatte die Verlorene sich auf geborgte Macht gestützt, während alle anderen auf sich selbst angewiesen waren. Selbst mit ihrem Angreal war Aviendha keine würdige Gegnerin für Graendal.
Die Verlorene richtete sich mit schmerzverzerrtem Gesicht auf. Aviendha spuckte ihr vor die Füße, dann fing sie an wegzukriechen und hinterließ eine Blutspur.
Niemand kam aus dem Tor. Hatte sie es zum falschen Ort geöffnet?
Sie erreichte den Rand des Felssimses, der auf das Schlachtfeld von Thakan’dar in der Tiefe hinausschaute. Noch ein Stück weiter, und sie würde abstürzen. Immer noch besser, als eines ihrer Schoßtiere zu werden …
Stränge aus Luft schlangen sich um ihre Beine und rissen sie zurück. Sie schrie durch die zusammengebissenen Zähne auf, dann warf sie sich auf den Rücken; ihre Füße schienen kaum mehr als Stümpfe aus rohem Fleisch zu sein. Eine Woge des Schmerzes überrollte sie, ihre Sicht verdunkelte sich. Sie kämpfte darum, die Eine Macht zu erreichen.
Graendal hielt sie fest, aber dann gab sie nach und knurrte, sackte keuchend zusammen. Das Gewebe, das ihre Wunde verschloss, war noch an Ort und Stelle, aber ihr Gesicht verlor jegliche Farbe. Sie schien kurz davorzustehen, das Bewusstsein zu verlieren.
Das offene Wegetor lockte Aviendha, es war eine Fluchtmöglichkeit – aber genauso gut hätte es eine Meile weit entfernt sein können. Benommenheit legte sich auf ihr Bewusstsein, ihre Beine standen in Flammen, aber sie zog ihr Messer aus der Scheide.
Es entglitt ihren zitternden Fingern. Sie war zu schwach, um es zu halten.
44
Zwei Handwerker
Ein Rascheln weckte Perrin. Vorsichtig öffnete er die Augen einen Spaltbreit und fand sich in einem dunklen Raum wieder.
Berelains Palast, kam die Erinnerung. Die Wellen draußen waren weniger stürmisch, die Schreie der Möwen waren verstummt. Irgendwo in der Ferne grollte der Donner.
Wie spät war es? Es roch nach Morgen, aber draußen war es noch dunkel. Es fiel ihm schwer, die dunkle Silhouette zu erkennen, die sich durch den Raum auf ihn zubewegte. Er spannte sich an, bis er den Geruch erkannte.
»Chiad?«, fragte er und setzte sich auf.
Die Aiel zuckte nicht zusammen, obwohl er davon überzeugt war, sie überrascht zu haben, denn sie blieb abrupt stehen. »Ich sollte nicht hier sein«, flüsterte sie. »Ich treibe meine Ehre an den Rand dessen, was erlaubt sein sollte.«
»Es ist die Letzte Schlacht, Chiad«, erwiderte er. »Da dürft Ihr ein paar Grenzen dehnen … vorausgesetzt, wir haben noch nicht gewonnen.«
»Die Schlacht bei Merrilor ist gewonnen, aber die größere Schlacht – die bei Thakan’dar – wütet noch immer.«
»Ich muss mich wieder an die Arbeit machen«, sagte Perrin. Er trug lediglich seinen Lendenschurz. Aber davon ließ er sich nicht abhalten. Eine Aiel wie Chiad würde nicht erröten. Er schlug die Decke zur Seite.
Leider war die tief in seinen Knochen sitzende Müdigkeit kaum weniger geworden. »Befehlt Ihr mir nicht, im Bett zu bleiben?«, fragte er und suchte nach Hemd und Hose. Sie lagen zusammengefaltet mit seinem Hammer am Fuß des Bettes auf einem Abstelltisch. Als er darauf zuging, musste er sich auf der Matratze abstützen. »Seid Ihr nicht der Ansicht, dass ich nicht kämpfen soll, während ich so erschöpft bin? Jede Frau, der ich hier begegnete, scheint das für ihre dringendste Sorge zu halten.«
»Ich bin zu der Ansicht gelangt«, erwiderte Chiad trocken, »dass es Männer nur noch dümmer macht, wenn man sie auf ihre Dummheit hinweist. Außerdem bin ich Gai’shain. Es steht mir nicht zu.«
Er blickte sie an, und auch wenn er in der Dunkelheit ihr Erröten nicht sehen konnte, konnte er dennoch ihre Verlegenheit riechen. Sie verhielt sich nicht gerade wie eine Gai’shain. »Rand hätte euch alle einfach von euren Eiden befreien sollen.«
»Diese Art Macht hat er nicht«, sagte sie hitzig.
»Was nutzt denn die Ehre, wenn der Dunkle König die Letzte Schlacht gewinnt?«, fauchte Perrin und stieg in seine Hosen.
»Sie bedeutet alles«, erwiderte Chiad. »Sie ist den Tod wert, sie ist es wert, die Welt selbst aufs Spiel zu setzen. Wenn wir keine Ehre haben, dann wäre es besser, wenn wir verlieren.«
Nun, vermutlich gab es Dinge, über die er das Gleiche sagen würde. Natürlich würde er keine albernen weißen Gewänder tragen – aber er würde so manches nicht tun, was die Weißmäntel getan hatten, selbst wenn die Welt auf dem Spiel stand. Er bedrängte sie nicht weiter.
»Warum seid Ihr hier?«, fragte er und schlüpfte in das Hemd.
»Gaul«, sagte Chiad. »Ist er …«
»O beim Licht!«, sagte Perrin. »Ich hätte Euch das schon längst sagen müssen. In letzter Zeit habe ich Eisenschrott statt eines Verstands, Chiad. Als ich ihn verließ, ging es ihm gut. Er befindet sich noch immer im Traum, und dort, wo er ist, vergeht die Zeit viel langsamer. Vermutlich ist für ihn nur eine Stunde vergangen, aber ich muss zu ihm zurückkehren.«
»In Eurem Zustand?«, fragte sie und ignorierte die Tatsache, dass sie eben noch gesagt hatte, ihm das nicht vorzuhalten.
»Nein.« Perrin setzte sich aufs Bett. »Beim letzten Mal habe ich mir dabei beinahe den Hals gebrochen. Ich brauche eine Aes Sedai, die mich von meiner Erschöpfung kuriert.«
»Das ist gefährlich«, sagte Chiad.
»Gefährlicher, als Rand sterben zu lassen? Gefährlicher, als Gaul ohne Verbündete in der Welt der Träume zu lassen, wo er den Car’a’carn allein beschützt?«
»Der sticht sich doch eher mit dem eigenen Speer selbst in den Fuß, wenn er allein kämpfen muss«, sagte Chiad.
»Ich meinte nicht …«
»Schon gut, Perrin Aybara. Ich versuche es.« Sie ging mit raschelndem Gewand.
Perrin legte sich wieder hin und rieb sich mit den Handkanten die Augen. Bei dem letzten Kampf gegen den Schlächter war er viel selbstbewusster gewesen, und er war trotzdem gescheitert. Er knirschte mit den Zähnen und hoffte, dass Chiad bald zurückkehrte.
Etwas bewegte sich außerhalb seines Zimmers. Mühsam setzte er sich wieder auf.
Ein großer Schemen verdunkelte den Eingang, dann entfernte er die Klappe von einer Lampe. Meister Luhhan war wie ein Amboss gebaut, mit einem stämmigen und doch kraftvollen Oberkörper und gewaltigen Armen. In Perrins Vorstellung hatte der Mann nicht ein einziges graues Haar. Meister Luhhan war älter geworden, aber keineswegs hinfälliger. Perrin bezweifelte, dass das je passieren würde.
»Lord Goldauge?«, fragte er.
»Licht, bitte«, erwiderte Perrin. »Meister Luhhan, gerade Ihr von allen Leuten solltet Euch doch dazu überwinden können, mich einfach Perrin zu nennen. Oder gleich ›mein nichtsnutziger Lehrling‹.«