Mat hielt inne, als ihm ein Gedanke kam. Kundschafterlager. »Ihr meint eines dieser seanchanischen Patrouillenlager?«
»Ja«, sagte Grady. »Da die Tore jetzt unzuverlässig sind, haben sie uns Statusberichte über die Schlacht geschickt.«
»Na, dann steht da nicht so dumm rum«, sagte Mat. »Öffnet ein Wegetor! Komm mit, Olver. Wir haben noch ein paar Dinge zu erledigen.«
»Ahh …« Shaisam wogte auf das Schlachtfeld von Thakan’dar. So perfekt. So vergnüglich. Seine Feinde töteten sich gegenseitig. Und er … er war so groß geworden.
Sein Bewusstsein befand sich in jedem Nebelfinger, der sich in das Tal hinunter ergoss. Die Seelen der Trollocs waren … nun, unbefriedigend. Aber auch einfaches Korn konnte den Magen ordentlich füllen. Und Shaisam hatte einige von ihnen verschlungen.
Seine Drohnen stolperten in Nebel gehüllt die Talseite hinunter. Trollocs mit Löchern in der Haut, als hätte man sie gekocht. Tote, weiße Augen. Eigentlich brauchte er sie nicht länger, da ihre Seelen ihm das nötige Material verschafft hatten, um sich selbst neu zu erschaffen. Sein Wahnsinn hatte sich zurückgezogen. Jedenfalls größtenteils. Nun ja, größtenteils war übertrieben. Aber es reichte.
Er befand sich inmitten der Nebelbank. Noch war er nicht wiedergeboren worden – noch nicht ganz. Er würde einen Ort finden müssen, den er befallen konnte, einen Ort, an dem die Grenzen zwischen den Welten dünn waren. Dort konnte er sein Ich in die Steine selbst sickern lassen und sein Bewusstsein an diesem Ort verankern. Der Prozess würde Jahre dauern, aber sobald er angefangen hatte, würde man ihn noch schwerer töten können.
Im Augenblick war Shaisam verwundbar. Diese sterbliche Gestalt, die im Zentrum seines Verstandes ging … er war daran gebunden. Fain, so hatte sie geheißen. Padan Fain.
Trotzdem war er riesig. Diese Seelen hatten viel Nebel erschaffen, der wiederum andere gefunden hatte, an denen er sich nähren konnte. Vor ihm kämpften Menschen gegen Schattengezücht. Das alles würde ihm zusätzliche Kraft verleihen.
Seine Drohnen stolperten auf das Schlachtfeld, und sofort wandten sich beide Seiten gegen sie. Shaisam zitterte vor Freude. Sie sahen es einfach nicht. Sie begriffen es nicht. Die Drohnen waren nicht hier, um zu kämpfen.
Sie waren ein Ablenkungsmanöver.
Während der Kampf seinen Verlauf nahm, streckte er seine Essenz in Nebelschwaden aus, dann durchbohrte er damit die Körper der Kämpfer und Trollocs. Er nahm Myrddraal. Verwandelte sie. Benutzte sie.
Bald würde dieses ganze Heer ihm gehören.
Er brauchte diese Kraft für den Fall, dass ihn sein alter Feind … sein lieber Freund angriff.
Diese beiden Freunde – diese beiden Feinde – waren miteinander beschäftigt. Ausgezeichnet. Shaisam führte seinen Angriff fort, tötete Feinde auf beiden Seiten und verschlang sie. Einige versuchten, ihn anzugreifen, indem sie in seinen Nebel, seine Umarmung, liefen. Natürlich brachte sie das um. Denn das war sein wahres Selbst. Als Fain hatte er bereits zuvor versucht, diesen Nebel zu erschaffen, war aber nicht gereift genug dazu gewesen.
Sie konnten ihn nicht erreichen. Kein lebendes Wesen konnte seinem Nebel widerstehen. Einst war der Nebel ein verstandloses Ding gewesen. Er war nicht Fain gewesen. Aber er war in Fain gefangen gewesen, ein Samen, der fortgetragen worden war, und dieser Tod – dieser wunderbare Tod – hatte im Fleisch eines Mannes einen fruchtbaren Boden gefunden.
Die drei verschmolzen in seinem Inneren. Nebel. Mann. Meister. Dieser wunderbare Dolch – sein noch existierender alter Körper trug ihn zurzeit – war zu etwas Köstlichem und Neuem und Uraltem gewachsen, alles davon zugleich.
Also war der Nebel er, aber auch wiederum nicht. Der Nebel besaß keinen eigenen Verstand, aber er war sein Körper und beherbergte seinen Verstand. Und dank dieser Wolken am Himmel brauchte er sich nicht die geringsten Sorgen zu machen, dass ihn die Sonne wegbrannte.
Es war so nett von seinem alten Feind, ihn auf diese Weise zu empfangen! Sein alter Körper im Herzen des schleichenden Nebels lachte, während sich sein Verstand – der Nebel selbst – daran ergötzte, wie perfekt doch alles war.
Dieser Ort würde ihm gehören. Aber erst, nachdem er Rand al’Thor verschlungen hatte, die stärkste Seele von ihnen allen.
Was für ein wunderbares Fest!
Gaul klammerte sich außerhalb des Kraters des Verderbens an die Felsen. Sturmböen rissen an ihm und peitschten Sand und Felssplitter gegen seinen Körper, schnitten seine Haut auf. Er lachte den schwarzen Mahlstrom über ihm aus.
»Tu dein Schlimmstes!«, brüllte er zum Himmel hinauf. »Ich lebte im Dreifachen Land. Ich wusste, dass die Letzte Schlacht großartig werden würde, kein Spaziergang zum Dach meiner Mutter, um dort Blumen zu pflücken.«
Der Wind stürmte noch stärker, als wollte er ihm antworten, aber Gaul drückte sich an den Felsen und bot ihm keine Angriffsfläche. Seine Shoufa hatte er verloren – sie war fortgeweht worden –, also hatte er sich ein Stück seines Hemdes über die untere Gesichtshälfte gebunden. Er hielt einen Speer. Die anderen waren weg, zerbrochen oder weggerissen.
Er kroch auf die Höhlenöffnung zu, die dort völlig frei lag. Ein dünner purpurfarbener Schleier versperrte den Eingang. Eine Gestalt in dunklem Leder erschien vor der Öffnung. In der Nähe dieses Mannes verstummte der Wind.
Mit wegen des Sturms zusammengekniffenen Augen kroch Gaul lautlos hinter den Mann und stach zu.
Der Schlächter fuhr fluchend auf dem Absatz herum und wehrte den Speer mit einem Arm ab, der plötzlich so hart wie Stahl war. »Seid verflucht!«, brüllte er Gaul an. »Bleibt einmal stillstehen!«
Gaul sprang zurück, und der Schlächter verfolgte ihn, aber dann trafen die Wölfe ein. Gaul zog sich zurück und verschmolz mit dem Felsen. Der Schlächter war hier sehr mächtig, aber was er nicht sehen konnte, konnte er auch nicht töten.
Die Wölfe bedrängten den Schlächter, bis er verschwand. Hunderte von ihnen streiften im Wind durch das Tal. Der Schlächter hatte Dutzende von ihnen getötet; Gaul flüsterte einem weiteren bei diesem Angriff Gefallenen zum Abschied zu. Er konnte nicht wie Perrin Aybara mit ihnen sprechen, aber sie waren Speerbrüder.
Vorsichtig kroch Gaul vorwärts. Seine Kleidung und Haut entsprachen der Farbe des Felsens – dass sie so waren, fühlte sich richtig an, also waren sie es auch. Vermutlich konnten weder er noch die Wölfe diesen Schlächter besiegen, aber sie konnten es immerhin versuchen. Mit Nachdruck versuchen.
Wie lange war es her, dass Perrin Aybara verschwunden war? Vielleicht zwei Stunden?
Falls dich der Schatten verschlungen hat, mein Freund, dachte er, dann bete ich, dass du Sichtblender ins Auge gespuckt hast, bevor du erwacht bist.
Wieder erschien der Schlächter auf den Felsen, aber Gaul kroch nicht los. Der Mann hatte schon zuvor steinerne Abbilder von sich geschickt. Diese Gestalt bewegte sich nicht. Gaul blickte sich langsam und vorsichtig um, als mehrere Wölfe neben dem Abbild erschienen. Sie schnüffelten daran.
Es fing an, sie zu töten.
Gaul fluchte und verließ das Versteck. Anscheinend hatte der Schlächter genau das gewollt. Er schleuderte einen Speer – einen von Gauls eigenen Waffen. Er traf ihn in die Seite. Gaul grunzte, fiel auf die Knie.
Der Schlächter lachte, dann hob er die Hände. Luft peitschte um ihn herum, schleuderte die Wölfe weg. Gaul konnte kaum ihr Wimmern hören, weil der Wind so laut toste.
»Hier bin ich ein König!«, schrie der Schlächter in den Sturm hinein. »Hier bin ich mehr als die Verlorenen. Dieser Ort gehört mir, und ich werde …«
Vermutlich beeinträchtigte die Wunde in seiner Seite seine Sinne; Gaul glaubte, dass die Böen schwächer wurden.
»Hier werde ich …«
Der Wind schlief ein.
Stille senkte sich über das ganze Tal. Der Schlächter erstarrte, dann warf er einen besorgten Blick auf den Höhleneingang hinter sich. Dort schien sich nichts verändert zu haben.