Er zog mehr von ihrer Macht in sich und benutzte sie. Gegenstände stiegen in die Luft.
»Androl!« Panik. Es war die Panik, die sie nach der Nachricht vom Tod ihrer Eltern verspürt hatte. Seit über hundert Jahren hatte sie nicht mehr solches Entsetzen gefühlt, nicht mehr seit ihrer Prüfung für die Stola.
Er hatte die Kontrolle über ihr Machtlenken. Absolute Kontrolle. Sie fing an, nach Luft zu schnappen, versuchte nach ihm zu greifen. Sie konnte Saidar nicht benutzen, bevor er es nicht wieder für sie freigab – aber er konnte es gegen sie benutzen. Bilder stiegen in ihr auf, wie er ihre eigene Kraft dazu benutzte, um sie mit Luft zu fesseln. Sie konnte die Verknüpfung nicht beenden. Das konnte nur er.
Plötzlich wurde ihm das bewusst, und seine Augen weiteten sich. Der Zirkel verschwand in der Zeit eines Blinzelns, und ihre Macht gehörte wieder ihr. Ohne nachzudenken schlug sie zu. Das würde nicht wieder geschehen. Sie würde die Kontrolle haben. Bevor sie sich überhaupt bewusst war, was sie da tat, schleuderte sie die nötigen Gewebe.
Androl fiel auf die Knie, seine Hand zuckte über den Tisch, während er den Kopf zurückwarf, schleuderte Werkzeuge und Lederstreifen zu Boden. Er keuchte auf. »Was habt Ihr getan?«
»Taim sagte, wir könnten jeden von euch nehmen«, murmelte Pevara, als ihr klar wurde, was sie da getan hatte. Sie hatte ihn mit dem Behüterbund an sich gebunden. In gewisser Weise genau das, was er ihr angetan hatte. Sie versuchte ihr aufgeregt pochendes Herz zu beruhigen. In ihrem Hinterkopf breitete sich die Wahrnehmung seiner Gegenwart aus, genau wie zuvor im Zirkel, aber irgendwie persönlicher. Intimer.
»Taim ist ein Ungeheuer!«, knurrte er. »Das wisst Ihr. Ihr beruft Euch auf sein Wort, um das zu tun, und Ihr tut es ohne meine Erlaubnis?«
»Ich … ich …«
Androl biss die Zähne zusammen, und Pevara spürte etwas. Etwas Fremdes, etwas Seltsames. Als würde sie sich von außen betrachten. Sie fühlte, wie ihre Gefühle endlos zu ihr zurückkreisten.
Scheinbar eine Ewigkeit lang verschmolzen sein und ihr Ich. Sie wusste, wie es war, er zu sein, seine Gedanken zu denken. Sie sah sein ganzes Leben in der Zeit eines Wimpernschlags, wurde von seinen Erinnerungen aufgesogen. Keuchend fiel sie vor ihm auf die Knie.
Es verblich. Nicht völlig, aber es verblich. Es fühlte sich an, als wäre man hundert Längen durch kochendes Wasser geschwommen, um nach dem Heraussteigen vergessen zu haben, wie sich alles sonst anfühlte.
»Beim Licht …«, flüsterte sie. »Was war das?«
Er lag auf dem Rücken. Wann war er gestürzt? Blinzelnd schaute er zur Decke. »Ich habe es ein paar der anderen tun sehen. Einige Asha’man gehen den Bund mit ihren Ehefrauen ein.«
»Ihr habt mich gebunden?«, stieß sie entsetzt hervor.
Stöhnend drehte er sich auf die Seite. »Ihr habt es zuerst mit mir gemacht.«
Erschüttert wurde ihr bewusst, dass sie noch immer seine Gefühle wahrnahm. Sein Ich. Sie bekam sogar etwas von dem mit, was er dachte. Nicht die formulierten Gedanken, aber ein paar Eindrücke davon.
Er war verwirrt, besorgt und … neugierig. Neugierig auf die neue Erfahrung. Dummer Mann!
Sie hatte gehofft, dass sich die beiden Behüterbunde irgendwie gegenseitig aufheben würden. Das hatten sie nicht. »Wir müssen damit aufhören«, sagte sie. »Ich gebe Euch frei. Ich schwöre es. Bloß … gebt mich frei.«
»Ich weiß nicht, wie das geht«, sagte er, stand auf und atmete tief durch. »Es tut mir leid.«
Er sagte die Wahrheit. »Dieser Zirkel war eine dumme Idee«, sagte sie. Er reichte ihr die Hand, um ihr beim Aufstehen zu helfen. Sie nahm sie nicht an und stand allein auf.
»Ich glaube, das war lange vor mir Eure dumme Idee.«
»Das war es«, gab sie zu. »Nicht unbedingt meine erste, aber es könnte eine meiner schlimmsten sein.« Sie setzte sich. »Wir müssen das durchdenken. Eine Möglichkeit finden, um es …«
Die Werkstatttür knallte auf.
Androl fuhr herum, und Pevara umarmte die Quelle. Androl schnappte sich seine Ahle und hielt sie wie eine Waffe. Außerdem hatte er die Eine Macht ergriffen. Sie konnte die Kraft in ihm spüren – wegen seines mangelnden Talents war sie wie ein kleiner Lavastrom und damit dennoch heiß und brennend. Sie konnte seine Ehrfurcht fühlen. Also empfand er darin genau wie sie. Die Eine Macht zu halten war, als würde man zum allerersten Mal die Augen aufschlagen, als erwachte die Welt zum Leben.
Glücklicherweise wurden weder die Waffe noch die Eine Macht gebraucht. Der junge Evin stand in der Tür, Regenwasser tropfte von seinem Gesicht. Er schloss die Tür und eilte zu Androls Werkbank.
»Androl, es …« Er erstarrte, als er Pevara sah.
»Evin«, sagte Androl. »Ihr seid allein.«
»Ich ließ Nalaam auf dem Posten zurück.« Er atmete schwer. »Es war wichtig!«
»Wir sollen niemals allein sein, Evin«, sagte Androl streng. »Niemals. Immer nur zu zweit. Ganz egal, um was für einen Notfall es sich auch handelt.«
»Ich weiß, ich weiß«, sagte Evin. »Es tut mir leid. Es ist nur – die Neuigkeit, Androl.« Er warf Pevara einen Blick zu.
»Sprecht.«
»Welyn und seine Aes Sedai sind zurück.«
Pevara konnte Androls plötzliche Anspannung fühlen. »Ist er … ist er noch einer von uns?«
Evin schüttelte angewidert den Kopf. »Er ist einer von ihnen. Jenare Sedai vermutlich auch. Ich kenne sie nicht gut genug, um das mit Sicherheit sagen zu können. Welyn hingegen … seine Augen gehören nicht länger ihm, und er dient jetzt Taim.«
Androl stöhnte. Welyn war bei Logain gewesen. Sie hatten die Hoffnung gehabt, dass Logain und Welyn noch freie Männer waren, obwohl man Mezar erwischt hatte.
»Logain?«, flüsterte Androl.
»Er ist nicht hier«, erwiderte Evin, »aber Androl, Welyn behauptet, dass Logain bald zurückkehrt – und dass er sich mit Taim getroffen hat und sie ihre Meinungsverschiedenheiten aus der Welt geräumt haben. Welyn verspricht, dass Logain morgen kommt, um es zu beweisen. Androl … das war es. Wir müssen es zugeben. Sie haben ihn.«
Pevara konnte Androls Zustimmung fühlen, genau wie sein Entsetzen. Es entsprach dem ihren.
Aviendha bewegte sich lautlos durch das dunkle Lager.
So viele Gruppen. Auf dem Feld von Merrilor mussten mindestens hunderttausend Menschen versammelt sein. Hunderte von Tausenden Menschen. Und sie alle warteten. Wie ein Atemzug, den man vor einem großen Sprung anhielt.
Die Aiel sahen sie, aber sie ging nicht zu ihnen. Die Feuchtländer bemerkten sie nicht, abgesehen von einem Behüter, der sie entdeckte, als sie das Lager der Aes Sedai am Rand passierte. Dieses Lager war von hektischer Betriebsamkeit erfüllt. Etwas war geschehen, allerdings bekam sie nur Bruchstücke mit. Irgendwo hatten Trollocs angegriffen?
Sie hörte genauer hin und erfuhr, dass der Angriff in Andor stattgefunden hatte, in der Stadt namens Caemlyn. Es gab die Sorge, dass die Trollocs die Stadt verlassen und das Land verheeren würden.
Sie musste mehr erfahren; würden heute Nacht die Speere tanzen? Vielleicht wusste Elayne mehr. Lautlos verließ Aviendha das Lager. Sich in diesem feuchten Land mit seinem üppigen Pflanzenwuchs lautlos zu bewegen stellte eine andere Herausforderung als im Dreifachen Land dar. Der trockene Boden dort war oft staubig, was die Schritte dämpfen konnte. Hier konnten feuchte Grashalme unerwartete trockene Zweige verbergen.
Sie versuchte nicht darüber nachzudenken, wie tot dieses Gras erschien. Einst hätte sie diese braune Farbe als üppig wuchernd bezeichnet. Jetzt wusste sie, dass die Pflanzen in diesem feuchten Land nicht so welk und ausgehöhlt aussehen sollten.
Ausgehöhlte Pflanzen. Was dachte sie da bloß? Sie schüttelte den Kopf und schlich durch die Schatten aus dem Lager der Aes Sedai. Kurz zog sie in Betracht, zurückzuschleichen und diesen Behüter zu überraschen – er hatte sich in einer moosbedeckten Nische in den Trümmern eines alten Gebäudes versteckt und beobachtete die Lagergrenze –, aber dann verwarf sie die Idee. Sie wollte Elayne finden und sich nach dem Angriff erkundigen.