Sie kam zu einem weiteren betriebsamen Lager, duckte sich unter die blattlosen Äste eines Baumes – seinen Namen kannte sie nicht, aber die Äste erstreckten sich hoch und breit – und schlüpfte über die Grenze. Zwei Feuchtländer in Weiß und Rot standen neben einem Feuer auf »Posten«. Sie entdeckten sie nicht, zuckten aber zusammen und richteten Stangenwaffen auf eine gut dreißig Schritt entfernte Hecke, als dort ein Tier raschelte.
Kopfschüttelnd passierte Aviendha sie.
Weiter. Sie musste weitergehen. Was sollte sie wegen Rand al’Thor unternehmen? Wie sahen seine Pläne für den morgigen Tag aus? Weitere Fragen, die sie Elayne stellen wollte.
Die Aiel brauchten einen Daseinszweck, sobald Rand al’Thor mit ihnen fertig war. Das war deutlich aus ihren Visionen hervorgegangen. Vielleicht sollten sie ins Dreifache Land zurückkehren. Aber … nein. Es zerriss ihr das Herz, aber sie musste zugeben, dass die Aiel in diesem Fall zu ihren Gräbern ziehen würden. Sie würden nicht sofort als Volk untergehen, aber so würde es enden. Die sich verändernde Welt mit neuen Gerätschaften und neuen Kampfmethoden würde die Aiel überholen, und die Seanchaner würden sie nie in Ruhe lassen. Nicht, solange sie Frauen hatten, die die Macht lenken konnten. Nicht mit ihren Heeren voller Speere, die zu jedem Zeitpunkt einfallen konnten.
Eine Patrouille näherte sich. Aviendha schichtete zur Tarnung abgefallenes braunes Unterholz über sich, dann lag sie neben ein paar abgestorbenen Gewächsen und rührte sich nicht. Die Wächter gingen keine zwei Handspannen an ihr vorbei.
Wir könnten die Seanchaner jetzt angreifen, dachte sie. In meiner Vision warteten die Aiel damit viele Generationen – und das gab den Seanchanern die Zeit, ihre Position zu stärken.
Bei den Aiel sprach man bereits über die Seanchaner und die Konfrontation, zu der es unweigerlich kommen musste. Die Seanchaner würden sie erzwingen, flüsterte man. Aber in ihrer Vision waren Generationen vergangen, in denen die Seanchaner eben nicht angegriffen hatten. Warum? Was konnte sie möglicherweise zurückgehalten haben?
Aviendha erhob sich und schlich über den Weg, den die Wächter genommen hatten. Sie zog das Messer und rammte es in den Boden. Sie ließ es dort, direkt neben einer Laterne auf einer Stange, wo es selbst für Feuchtländeraugen deutlich zu sehen sein musste. Dann schlüpfte sie zurück in die Nacht und verbarg sich an der Hinterseite des großen Zeltes, das ihr Ziel war.
Sie duckte sich und machte ihre Atemübungen, beruhigte sich mit dem Rhythmus. Aus dem Zelt drangen gedämpfte nervöse Stimmen. Aviendha gab sich alle Mühe, nicht zu lauschen. Zu lauschen gehörte sich nicht.
Als die Patrouille wieder vorbeikam, richtete sie sich auf. Als die Soldaten aufschrien, weil sie ihren Dolch entdeckt hatten, schob sie sich zur Zeltvorderseite. Die beiden Wächter dort hatten sich den Stimmen der Männer zugewandt, die den Dolch entdeckt hatten. Sie bemerkten Aviendha nicht, als sie die Zeltplane ergriff und hinter ihnen ins Zelt schlüpfte.
Auf der anderen Seite des großen Zeltes saßen ein paar Leute an einem Tisch um eine Lampe herum. Sie waren so in ihre Unterhaltung vertieft, dass sie sie nicht bemerkten, also machte sie es sich auf ein paar Kissen am Boden bequem und wartete ab.
Nicht zuzuhören fiel nun sehr schwer, da sie so nahe war.
»… müssen unsere Streitkräfte zurückschicken!«, bellte ein Mann. »Der Fall der Hauptstadt ist ein Symbol, Euer Majestät. Ein Fanal! Wir können Caemlyn nicht untergehen lassen, denn das würde bedeuten, dass die ganze Nation im Chaos versinkt.«
»Ihr unterschätzt die Stärke des andoranischen Volkes«, sagte Elayne. Sie erschien sehr stark, sehr kontrolliert, ihr rotgoldenes Haar leuchtete praktisch im Lampenschein. Hinter ihr standen mehrere ihrer Militärkommandanten und verliehen dem Treffen Autorität und ein Gefühl von Stabilität. Aviendha sah erfreut das leidenschaftliche Feuer in den Augen ihrer Erstschwester.
»Ich war in der Stadt, Lord Lir«, fuhr Elayne fort. »Und ich ließ eine kleine Streitmacht zurück, die uns warnen soll, falls die Trollocs die Stadt verlassen. Unsere Spione werden mithilfe von Wegetoren durch die Stadt schleichen und herausfinden, wo die Trollocs ihre Gefangenen zusammentreiben, dann können wir Rettungsmissionen unternehmen, falls die Bestien die Stadt auch weiterhin halten.«
»Aber die Stadt selbst!«, beharrte Lord Lir.
»Caemlyn ist verloren, Lir!«, fauchte Lady Dyelin. »Wir wären Narren, würden wir jetzt einen Angriff versuchen.«
Elayne nickte. »Ich habe mich mit den anderen Hohen Herren besprochen, und sie stimmen meiner Einschätzung zu. Im Augenblick sind die entkommenen Flüchtlinge in Sicherheit – ich schickte sie unter Bewachung weiter nach Weißbrücke. Falls es in der Stadt noch Überlebende gibt, versuchen wir, sie mit Wegetoren zu retten, aber ich werde meinen Streitkräften keinen Sturmangriff auf Caemlyns Mauern befehlen.«
»Aber …«
»Die Stadt zurückzuerobern wäre sinnlos«, sagte Elayne hart. »Ich weiß ganz genau, welchen Schaden man bei einem Heer anrichten kann, das diese Mauern angreift! Andor wird nicht wegen des Verlusts einer Stadt zusammenbrechen, ganz egal, welche Bedeutung diese Stadt auch hatte.« Ihr Gesicht war eine Maske, ihre Stimme so kalt wie guter Stahl.
»Irgendwann verlassen die Trollocs die Stadt«, fuhr sie fort. »Sie haben nichts davon, wenn sie sie halten; bestenfalls hungern sie sich selbst aus. Sobald sie abziehen, können wir sie bekämpfen – und auf einem weitaus günstigeren Schlachtfeld. Wenn Ihr es wünscht, Lord Lir, dürft Ihr die Stadt selbst besuchen und Euch davon überzeugen, dass ich die Wahrheit spreche. Der Besuch eines Hohen Herrn wäre gut für die Moral der dort stationierten Soldaten.«
Lir runzelte die Stirn, dann nickte er. »Ich glaube, das werde ich auch tun.«
»Dann erfahrt vorher meine Pläne. Noch vor dem Ende der Nacht schicken wir Späher los, um die zusammengetriebenen Zivilisten zu finden, und Aviendha, was beim verdammten linken Ei einer Ziege tust du da!«
Aviendha schaute von ihren Fingernägeln auf, die sie gerade mit ihrem zweiten Messer reinigte. Das verdammte linke Ei einer Ziege? Der war neu. Elayne kannte stets die besten Flüche.
Die drei Hohen Herren am Tisch sprangen wie gestochen auf, kippten die Stühle um und griffen nach den Schwertern. Elayne blieb mit geweiteten Augen sitzen.
»Es ist eine schlechte Angewohnheit«, gab Aviendha zu und steckte das Messer wieder in den Stiefel. »Meine Nägel sind zu lang, aber ich hätte das nicht in deinem Zelt machen sollen, Elayne. Es tut mir leid. Ich hoffe, das war nicht respektlos.«
»Ich spreche nicht von deinen verfluchten Nägeln«, sagte Elayne. »Wie … wann bist du angekommen? Warum haben dich die Wächter nicht angekündigt?«
»Sie haben mich nicht gesehen«, erwiderte Aviendha. »Ich wollte keine Umstände machen, und Feuchtländer können so empfindlich sein. Ich hatte die Befürchtung, dass sie mich vielleicht abweisen, jetzt, da du die Königin bist.« Die letzten Worte sagte sie mit einem Lächeln. Elayne hatte viel Ehre; unter den Feuchtländern wurde man nicht auf die übliche anständige Weise zum Anführer – hier konnten die Dinge ja so verrückt sein –, aber Elayne hatte sich gut gehalten und ihren Thron verdient. Aviendha hätte nicht stolzer auf eine Speerschwester sein können, die einen Clanhäuptling zum Gai’shain machte.
»Sie haben dich nicht …«, wiederholte Elayne. Plötzlich lächelte sie. »Du bist durch das ganze Lager geschlichen, bis zu meinem Zelt in der Mitte, dann bist du hineingeschlüpft und hast dich keine fünf Schritte von mir entfernt hingesetzt. Und niemand hat dich gesehen.«