»Ich wollte keine Umstände machen.«
»Du hast eine merkwürdige Art, keine Umstände zu machen.«
Elaynes Gefährten reagierten nicht so ruhig. Einer der drei, der junge Lord Perival, schaute sich besorgt um, als suchte er nach weiteren Eindringlingen.
»Meine Königin«, sagte Lir. »Diese Vernachlässigung des Wachdiensts muss bestraft werden! Ich werde die Männer finden, die ihre Pflicht so schlampig erledigten, und dafür sorgen, dass man sie …«
»Frieden«, sagte Elayne. »Ich spreche schon mit meinen Wächtern und gebe ihnen zu verstehen, dass sie ihre Augen ein kleines bisschen besser offen halten sollen. Trotzdem ist es eine alberne Vorsichtsmaßnahme, die Vorderseite eines Zeltes zu bewachen, wenn sich jemand hinten einfach einen Weg hineinschneiden kann. Das war es immer schon.«
»Und ein gutes Zelt ruinieren?«, sagte Aviendha und verzog den Mund. »Nur, wenn wir in Blutfehde lebten, Elayne.«
Elayne stand auf. »Lord Lir, Ihr dürft Euch die Stadt ansehen – mit ordentlichem Abstand –, wenn Ihr wünscht. Falls ihn jemand begleiten möchte, dann dürft ihr das. Dyelin, ich sehe Euch morgen früh.«
»Gut«, sagten die Lords nacheinander, dann verließen sie das Zelt. Dabei warfen sie Aviendha misstrauische Blicke zu. Dyelin schüttelte bloß den Kopf, bevor sie ihnen folgte, und Elayne schickte ihre Kommandanten los, um die Erkundung der Stadt vorzubereiten. Damit blieben nur noch Elayne und Aviendha im Zelt übrig.
»Beim Licht, Aviendha«, sagte Elayne und umarmte sie, »wenn die Leute, die mich tot sehen wollen, nur die Hälfte deiner Fähigkeiten hätten …«
»Habe ich etwas Falsches getan?«, fragte Aviendha.
»Abgesehen davon, sich wie ein Meuchelmörder in mein Zelt zu schleichen?«
»Aber du bist meine Erstschwester …«, erwiderte Aviendha. »Hätte ich fragen sollen? Aber wir sind nicht unter einem Dach. Oder … betrachten Feuchtländer ein Zelt als Dach, wie in einer Festung? Es tut mir leid, Elayne. Habe ich Toh? Ihr seid ein so unberechenbares Volk, es ist schwer zu sagen, was euch beleidigt und was nicht.«
Elayne lachte. »Aviendha, du bist ein Juwel. Ein absolutes Juwel. Licht, es tut gut, dich zu sehen. Heute Nacht brauchte ich eine Freundin.«
»Caemlyn ist gefallen?«
»Fast.« Elaynes Miene verdüsterte sich. »Es war dieses verfluchte Tor zu den Kurzen Wegen. Ich hielt es für sicher – ich habe alles getan, außer es zuzumauern, hatte fünfzig Wächter vor der Tür aufgestellt und die Avendesora-Blätter abnehmen und beide draußen aufbewahren lassen.«
»Dann hat sie jemand in Caemlyn reingelassen.«
»Schattenfreunde«, sagte Elayne. »Ein Dutzend Angehörige der Garde – glücklicherweise überlebte ein Mann ihren Verrat und konnte entkommen. Licht, ich weiß nicht, warum mich das überraschen sollte. Wenn sie in der Weißen Burg sind, dann sind sie auch in Andor. Aber das waren Männer, die Gaebril nicht unterstützten und loyal erschienen. Sie haben die ganze Zeit abgewartet, nur um uns jetzt zu verraten.«
Aviendha verzog das Gesicht, nahm dann aber einen Stuhl, um sich zu Elayne an den Tisch zu setzen, statt es sich auf dem Boden bequem zu machen. Ihre Erstschwester saß lieber so. Ihr Leib war mit den Kindern angeschwollen, die sie austrug.
»Ich schickte Birgitte mit den Soldaten zur Stadt, um zu sehen, was man machen kann«, sagte Elayne. »Aber wir haben getan, was in dieser Nacht möglich war, die Stadt wird beobachtet und die Flüchtlinge sind versorgt. Licht, ich wünschte, ich könnte mehr tun. Das Schlimmste auf dem Thron sind nicht die Dinge, die man tun muss, sondern die Dinge, die einem verwehrt bleiben.«
»Wir tragen den Kampf bald zu ihnen.«
»Das werden wir«, sagte Elayne mit wildem Blick. »Ich bringe ihnen Feuer und Zorn, sie werden für das Leid bezahlen, das sie meinem Volk angetan haben.«
»Ich habe gehört, dass du diesen Männern sagtest, sie sollten die Stadt nicht angreifen.«
»Nein. Ich werde dem Feind nicht die Befriedigung geben, meine eigenen Stadtmauern gegen mich einzusetzen. Ich habe Birgitte einen Befehl gegeben – irgendwann werden die Trollocs Caemlyn verlassen, das steht fest. Birgitte wird eine Möglichkeit finden, das zu beschleunigen, damit wir sie außerhalb der Stadt bekämpfen können.«
»Lass nicht den Feind dein Schlachtfeld bestimmen«, sagte Aviendha mit einem Nicken. »Eine gute Strategie. Und … Rands Zusammenkunft?«
»Ich nehme daran teil«, sagte Elayne. »Ich muss es tun, also wird es auch geschehen. Er täte besser daran, auf sein Zaudern und seine Großspurigkeit zu verzichten. Meine Untertanen sterben, meine Stadt brennt, die Welt steht zwei Schritte vor dem Abgrund. Ich werde bis zum Nachmittag bleiben; danach kehre ich nach Andor zurück.« Sie zögerte. »Begleitest du mich?«
»Elayne …«, sagte Aviendha. »Ich kann mein Volk nicht verlassen. Ich bin jetzt eine Weise Frau.«
»Du warst in Rhuidean?«
»Ja«, antwortete Aviendha. Obwohl es sie schmerzte, Geheimnisse vor ihrer Erstschwester zu haben, erzählte sie nichts von den Visionen, die sie dort erlebt hatte.
»Ausgezeichnet. Ich …«, setzte Elayne an, wurde aber unterbrochen.
»Meine Königin?«, rief der Wächter am Eingang. »Ein Bote für Euch.«
»Lasst ihn herein.«
Der Wächter zog die Plane für eine junge Gardistin mit dem Botenband am Mantel zurück. Sie machte eine ausführliche Verbeugung, riss mit der einen Hand den Hut vom Kopf, während sie mit der anderen einen Brief ausstreckte.
Elayne nahm den Brief entgegen, öffnete ihn aber nicht. Die Botin ging wieder.
»Vielleicht können wir doch zusammen kämpfen«, meinte Elayne. »Wenn ich meinen Willen durchsetzen kann, werde ich die Aiel an meiner Seite haben, wenn ich mir Andor zurückhole. Die Trollocs stellen in Caemlyn eine ernste Bedrohung für uns alle dar; selbst wenn ich ihre Hauptstreitmacht aus der Stadt locken kann, kann der Schatten sein Gezücht auch weiterhin durch die Kurzen Wege nach Andor schicken.
Während meine Heere also den größten Teil der Bestien außerhalb von Caemlyn bekämpfen – irgendwie muss ich die Stadt für das Schattengezücht unbewohnbar machen –, schicke ich eine kleinere Streitmacht durch Wegetore hinein, um den Eingang zu den Kurzen Wegen zu erobern. Wenn ich dafür die Hilfe der Aiel erringen könnte …«
Während sie sprach, umarmte sie die Quelle – Aviendha konnte das Glühen sehen – und schlitzte gedankenverloren den Brief auf, brach sein Siegel mit einem Strang Luft.
Aviendha hob eine Braue.
»Es tut mir leid«, sagte Elayne, »ich habe den Punkt meiner Schwangerschaft erreicht, wo ich wieder verlässlich Macht lenken kann, und ich finde immer einen Vorwand, um …«
»Bring die Kinder nicht in Gefahr«, sagte Aviendha.
»Ich bringe sie schon nicht in Gefahr. Du bist genauso schlimm wie Birgitte. Wenigstens hat hier keiner Ziegenmilch. Min sagt …« Sie verstummte und las den Brief. Ihre Miene verfinsterte sich, und Aviendha bereitete sich auf eine schlechte Nachricht vor.
»Ach, dieser Mann …«, stieß Elayne hervor.
»Rand?«
»Eines Tages erwürge ich ihn.«
Aviendha reckte das Kinn. »Wenn er dich beleidigt hat …«
Elayne fuchtelte mit dem Brief herum. »Er besteht darauf, dass ich nach Caemlyn zurückkehre, um mich um mein Volk zu kümmern. Er nennt ein Dutzend Gründe und geht so weit, mich ›von meiner Verpflichtung‹ zu befreien, mich morgen mit ihm zu treffen.«
»Er sollte bei dir auf nichts bestehen.«
»Vor allem nicht mit solchem Nachdruck«, sagte Elayne. »Beim Licht, das ist schlau. Offensichtlich will er mich mit allen Mitteln dazu bringen, zu bleiben. Das hat einen Hauch von Daes Demar.«
Aviendha zögerte. »Du scheinst stolz zu sein. Aber ich habe den Eindruck, dass dieser Brief nur einen Schritt von einer Beleidigung entfernt ist.«
»Ich bin stolz«, erwiderte Elayne. »Und wütend auf ihn. Aber stolz, weil er weiß, wie er mich auf diese Weise wütend machen kann. Licht! Wir werden doch noch einen König aus dir machen, Rand. Warum ist es ihm so schrecklich wichtig, dass ich an der Zusammenkunft teilnehme? Glaubt er, dass ich bloß wegen meiner Zuneigung zu ihm seine Seite unterstütze?«