»Du willst es also versuchen?«, fragte Coteren leise. »Ich bat sie, dich in Ruhe zu lassen, weil ich wusste, dass du es irgendwann versuchst. Ich wollte die Befriedigung, Page. Komm schon. Schlag zu. Mach es.«
Androl griff aus sich heraus und versuchte, die eine Sache zu bewerkstelligen, die er konnte, ein Wegetor zu erschaffen. Für ihn war das etwas, das über die Gewebe hinausging. Da waren nur er und die Macht, etwas Intimes, etwas Instinktives.
Im Moment ein Wegetor zu machen fühlte sich wie der Versuch an, eine hundert Fuß hohe Glasmauer nur mithilfe der Fingerspitzen zu erklimmen. Er sprang, kraxelte, bemühte sich. Nichts geschah. Dabei war er so nahe dran: Falls er nur noch ein kleines bisschen stärker drückte, konnte er …
Die Schatten wuchsen. Wieder stieg die Panik in ihm auf. Mit zusammengebissenen Zähnen griff Androl zum Kragen und riss den Anstecker ab. Er ließ ihn vor Coteren auf den Boden fallen. Es klirrte leise. Niemand im Raum sagte ein Wort.
Dann begrub er seine Schande unter einem Berg Entschlossenheit, ließ die Eine Macht los und drängte sich an Mezar vorbei in die Nacht. Nalaan, Canler und Pevara folgten ihm eilig.
Der Regen tränkte Androl. Er fühlte den Verlust der Anstecknadel wie den Verlust einer Hand.
»Androl …«, sagte Nalaam. »Es tut mir leid.«
Donner grollte. Sie traten durch schlammige Pfützen und ließen auf der unbefestigten Straße Wasser aufspritzen. »Es spielt keine Rolle«, meinte Androl.
»Vielleicht hätten wir kämpfen sollen«, sagte Nalaam. »Ein paar der Jungs dort drinnen hätten uns unterstützt; sie stecken nicht alle in seiner Tasche. Vater und ich haben mal gegen sechs Schattenhunde gekämpft – soll das Licht auf mein Grab leuchten, das taten wir. Wenn wir das überlebt haben, dann schaffen wir auch ein paar Asha’man-Hunde.«
»Sie hätten uns in Stücke gehauen«, sagte Androl.
»Aber …«
»Sie hätten uns in Stücke gehauen!«, wiederholte Androl. »Wir lassen sie nicht das Schlachtfeld bestimmen, Nalaam.«
»Aber es wird doch einen Kampf geben?«, fragte Canler und setzte sich an Androls andere Seite.
»Sie haben Logain«, sagte Androl. »Sonst hätten sie nicht diese Versprechen gemacht. Verlieren wir ihn, stirbt alles – unsere Rebellion, unsere Möglichkeit, eine geeinte Schwarze Burg zu schaffen.«
»Also …«
»Also retten wir ihn«, sagte Androl und ging weiter. »Noch heute Nacht.«
Rand arbeitete im weichen Licht einer Saidin-Kugel. Vor dem Drachenberg hatte er angefangen, diese alltägliche Benutzung der Einen Macht zu meiden. Sie zu ergreifen hatte Übelkeit verursacht.
Das hatte sich geändert. Saidin war ein Teil von ihm, und er musste sich nicht länger davor fürchten, wo es nun den Makel nicht mehr gab. Aber noch viel wichtiger war, dass er aufgehört hatte, Saidin – und damit auch sich – lediglich als Waffe zu betrachten.
Wann immer es möglich war, würde er nun im Licht der Lichtkugeln arbeiten. Er beabsichtigte, sich von Flinn im Heilen unterrichten zu lassen. Darin war er nicht sehr bewandert, aber selbst geringe Fähigkeiten konnten einem Verletzten das Leben retten. Viel zu oft hatte er dieses Wunder, dieses Geschenk, nur zur Zerstörung benutzt, um zu töten. War es da ein Wunder, dass man ihm voller Furcht begegnete? Was würde Tam dazu sagen?
Ich könnte ihn ja fragen, dachte er müßig, während er eine Erinnerungsnotiz auf ein Stück Papier schrieb. Die Vorstellung, dass sich Tam bloß ein Lager weiter befand, war immer noch ungewohnt. Rand hatte mit ihm zu Abend gegessen. Zuerst war es recht steif zugegangen, aber das war auch nicht anders zu erwarten gewesen, lud ein König doch seinen Vater aus einem Bauerndorf zum »Mahl« ein. Sie hatten darüber gelacht, und sofort hatte er sich besser gefühlt.
Rand hatte seinen Vater in Perrins Lager zurückkehren lassen, statt ihn mit Ehren und Reichtum zu überhäufen. Tam wollte nicht als der Vater des Wiedergeborenen Drachen betrachtet werden. Er wollte nur das sein, was er immer gewesen war – Tam al’Thor, ein nach jedermanns Maßstab verlässlicher Mann, aber kein Lord.
Rand konzentrierte sich wieder auf das vor ihm liegende Dokument. Sekretäre aus Tear hatten ihn in der richtigen Ausdrucksweise beraten, aber er hatte es mit eigener Hand geschrieben; dieses Dokument hatte er keiner anderen Hand und erst recht keinen anderen Augen anvertrauen wollen.
War er vielleicht zu vorsichtig? Was seine Feinde nicht voraussehen konnten, dagegen konnten sie auch nichts unternehmen. Nachdem ihn Semirhage um ein Haar hatte gefangen nehmen können, war er einfach zu misstrauisch geworden. Das war ihm bewusst. Aber er hatte diese Geheimnisse nun schon so lange bewahrt, dass es schwerfiel, sie herauszulassen.
Er fing wieder in der ersten Zeile des Dokuments an und las es erneut. Tam hatte ihn einmal losgeschickt, um einen Zaun auf Schwachstellen zu überprüfen. Er hatte gehorcht, aber nach seiner Rückkehr hatte ihn sein Vater erneut losgeschickt, um die Arbeit noch einmal zu tun.
Erst beim dritten Mal hatte Rand die lose Latte gefunden, die ersetzt werden musste. Bis heute wusste er nicht, ob sein Vater darüber vorher Bescheid gewusst hatte oder aber einfach nur vorsichtig gewesen war.
Dieses Dokument war viel wichtiger als ein Zaun. In dieser Nacht würde er es noch ein Dutzend Mal durchlesen und nach verborgenen Fallstricken suchen.
Leider fiel es schwer, sich zu konzentrieren. Die Frauen hatten etwas vor. Er konnte sie durch die Gefühlsknäuel in seinem Hinterkopf fühlen. Davon gab es vier – Alanna war auch noch da; sie hielt sich irgendwo im Norden auf. Die anderen drei hatten fast die ganze Nacht zusammengesteckt; nun hatten sie fast sein Zelt erreicht. Was hatten sie bloß vor? Es …
Moment. Eine hatte sich von den anderen getrennt. Sie war fast da. Aviendha?
Rand stand auf, ging zum Zelteingang und zog die Plane zur Seite.
Sie erstarrte auf der Stelle, als hätte sie beabsichtigt, sich in sein Zelt zu schleichen. Sie hob den Kopf und erwiderte seinen Blick.
Plötzlich schrillten Schreie durch die Nacht. Da fiel ihm erst auf, dass seine Leibwache nicht da war. Aber die Töchter kampierten ganz in der Nähe seines Zeltes, und sie schienen ihm etwas zuzurufen. Aber nichts Freundliches. Beleidigungen. Üble Beschimpfungen. Manche von ihnen schrien, was sie mit gewissen Teilen seiner Anatomie anstellen würden, sollten sie ihn erwischen.
»Was soll das denn?«, murmelte er.
»Sie meinen das nicht so«, erwiderte Aviendha. »Das ist für sie nur ein Symbol, dass du mich ihnen wegnimmst – dabei habe ich ihre Reihen längst verlassen, um mich den Weisen Frauen anzuschließen. Das ist ein … Brauch der Töchter. Tatsächlich ist es sogar ein Zeichen des Respekts. Würden sie dich nicht mögen, verhielten sie sich auch nicht so.«
Aiel. »Warte«, sagte er. »Wieso habe ich dich ihnen weggenommen?«
Aviendha schaute ihm in die Augen, aber ihre Wangen röteten sich dabei. Aviendha errötete? Das kam unerwartet.
»Eigentlich müsstest du das verstehen«, sagte sie. »Hättest du einmal bei dem aufgepasst, was ich dir über uns beibrachte …«
»Leider hattest du einen wollköpfigen Schüler.«
»Er hat Glück, dass ich mich entschieden habe, meinen Unterricht zu erweitern.« Sie trat einen Schritt näher. »Es gibt noch viele Dinge, die ich dich lehren muss.« Jetzt war sie knallrot.
Beim Licht. Sie war wunderschön. Aber das war Elayne auch … und Min … und …
Er war ein Narr. Ein vom Licht geblendeter Narr.
»Aviendha. Ich liebe dich, das tue ich wahrhaftig. Aber das ist verflucht noch mal ein Problem! Ich liebe euch alle drei. Ich glaube nicht, dass ich mich für jemanden entscheiden …«
Plötzlich lachte sie. »Du bist ein Narr, das bist du wirklich, oder, Rand al’Thor?«