Überall arbeiteten Männer. Soldaten ölten Rüstungen. Schmiede schärften Speerspitzen. Frauen bereiteten Federn vor, um Pfeile zu befiedern. Küchenkarren servierten Männern Frühstück, die besser geschlafen haben mussten als er. Jeder wusste, dass das ihre letzten Augenblicke vor dem Sturm waren.
Rand schloss die Augen. Er konnte das Land selbst fühlen, als teilten sie einen schwachen Behüterbund. Unter seinen Füßen krochen Raupen durch das Erdreich. Graswurzeln breiteten sich ganz langsam aus und suchten Nahrung. Die skeletthaften Bäume waren nicht tot, denn Wasser sickerte durch ihr Inneres. Sie schlummerten. Rotkehlchen drängten sich auf einem Baum in der Nähe. Sie begrüßten die eintreffende Morgendämmerung nicht. Sie drängten sich aneinander, als suchten sie Wärme.
Noch lebte das Land. Aber es lebte wie ein Mann, der sich mit den Fingerspitzen am Rand des Abgrunds festklammerte.
Rand öffnete die Augen. »Sind meine Sekretäre aus Tear zurückgekehrt?«
»Ja, Rand al’Thor«, sagte Katerin.
»Schickt den Herrschern eine Botschaft. Ich treffe sie in einer Stunde in der Mitte des Feldes, wo laut meinem Befehl keine Zelte aufgeschlagen werden durften.«
Katerin lief los, um seine Befehle weiterzugeben; drei andere Töchter in der Nähe übernahmen die Wache. Rand schloss den Zelteingang und drehte sich um, dann zuckte er zusammen, als er Aviendha so nackt wie am Tag ihrer Geburt mitten im Zelt stehen sah.
»Es ist sehr schwer, sich an dich heranzuschleichen, Rand al’Thor«, verkündete sie mit einem Lächeln. »Der Bund verschafft dir viel zu viele Vorteile. Ich muss mich ganz langsam bewegen, wie eine Echse um Mitternacht, damit sich dein Eindruck, wo ich gerade bin, nicht zu schnell anpasst.«
»Licht, Aviendha! Warum musst du dich überhaupt an mich anschleichen?«
»Darum«, sagte sie, machte einen Satz nach vorn, packte seinen Kopf, küsste ihn und drückte ihren Körper an ihn.
Er entspannte sich und genoss den Kuss. »Eigentlich überrascht es nicht«, murmelte er um ihre Lippen herum, »dass das viel mehr Spaß macht, weil ich mir keine Sorgen machen muss, etwas abzufrieren, während ich es tue.«
Aviendha löste sich von ihm. »Du solltest diesen Vorfall nicht erwähnen, Rand al’Thor.«
»Aber …«
»Mein Toh ist bezahlt, und ich bin jetzt Elaynes Erstschwester. Erinnere mich nicht an eine Schande, die vergessen ist.«
Schande? Warum sollte sie sich deshalb schämen, wo sie doch gerade … Er schüttelte den Kopf. Er konnte das Land atmen hören, konnte einen Käfer auf einem meilenweit entfernten Blatt fühlen, nur Aiel konnte er manchmal nicht verstehen. Aber vielleicht galt das ja auch nur für Frauen.
In diesem Fall traf vermutlich beides zu.
Aviendha zögerte neben dem Fass mit frischem Wasser. »Ich nehme an, wir haben keine Zeit für ein Bad.«
»Ach, du badest jetzt gern?«
»Ich habe es als einen Teil meines Lebens akzeptiert«, sagte sie. »Wenn ich in den Feuchtländern leben muss, werde ich einige Bräuche der Feuchtländer annehmen. Wenn sie nicht albern sind.« Ihr Tonfall deutete an, dass das für die meisten zutraf.
»Was ist los?«, fragte Rand und trat zu ihr.
»Was soll los sein?«
»Etwas macht dir zu schaffen. Ich kann es dir ansehen, es in dir fühlen.«
Sie musterte ihn argwöhnisch. Licht, sie war so wunderschön.
»Mit dir konnte man wesentlich leichter umgehen, als du noch nicht die uralte Weisheit deines früheren Ichs hattest, Rand al’Thor.«
Er lächelte. »Tatsächlich? So hast du dich damals aber nicht verhalten.«
»Da war ich auch noch wie ein Kind, unerfahren in Rand al’Thors grenzenloser Fähigkeit, einen verrückt zu machen.« Sie tauchte die Hände ins Wasser und wusch sich das Gesicht. »Alles ist gut; hätte ich gewusst, was du alles mit dir bringst, hätte ich vielleicht freiwillig für immer das Weiß angezogen.«
Lächelnd griff er nach der Macht, webte Wasser und zog die Flüssigkeit in einer Säule aus dem Fass. Aviendha trat zurück und sah neugierig zu.
»Die Vorstellung, dass ein Mann die Macht lenkt, scheint dich nicht länger zu stören«, bemerkte er, während er das Wasser in der Luft ausbreitete und mit einem Strang Feuer erhitzte.
»Dazu gibt es keinen Grund mehr. Würde es mich stören, dass du die Macht lenkst, würde ich mich wie ein Mann benehmen, der sich weigert, die Schande einer Frau zu vergessen, nachdem ihr Toh erledigt ist.« Sie musterte ihn.
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand so unhöflich sein sollte«, meinte er, warf den Mantel zur Seite und stellte sich vor sie. »Hier, das ist ein Relikt dieser ›uralten Weisheit‹, die du anscheinend so nervenaufreibend findest.«
Er holte das auf perfekte Temperatur erwärmte Wasser heran und zerdrückte es zu einem dichten Sprühregen, der um sie herum fiel. Aviendha keuchte auf und packte seinen Arm. Die Bräuche der Feuchtländer mochten ihr ja immer vertrauter werden, aber Wasser bereitete ihr noch immer sowohl Unbehagen wie auch andächtiges Entzücken.
Rand ergriff mit Luft ein Stück Seife, zerteilte sie und mischte die Flocken ins Wasser, ließ einen Strom Seifenblasen um ihre Körper brausen. Ihre Haare wehten nach oben. Er wrang Aviendhas Haar wie zu einer Säule zusammen, bevor er es sanft wieder auf ihre Schultern fallen ließ.
Eine weitere Welle warmen Wassers spülte die Seife ab, dann entfernte er den größten Teils der Feuchtigkeit, was sie feucht, aber nicht klatschnass zurückließ. Das Wasser kam zurück in das Fass, und er ließ Saidin mit einem gewissen Bedauern los.
Aviendha keuchte. »Das … Das war völlig närrisch und verantwortungslos.«
»Danke«, sagte er, ergriff ein Handtuch und warf es ihr zu. »Du würdest das meiste von dem, was wir während des Zeitalters der Legenden taten, als närrisch und verantwortungslos bezeichnen. Das war eine andere Zeit, Aviendha. Es gab viel mehr Machtlenker, und wir wurden von Kindheit an darin unterrichtet. Wir mussten nicht wissen, was Krieg ist oder wie man tötet. Wir hatten Schmerz, Hunger, Leid und Krieg ausgemerzt. Stattdessen benutzten wir die Eine Macht für Dinge, die vielleicht ganz gewöhnlich erscheinen.«
»Ihr hattet bloß angenommen, den Krieg ausgemerzt zu haben.« Aviendha schnaubte. »Ihr habt euch geirrt. Eure Dummheit hat euch schwach gemacht.«
»Das tat sie. Aber ich weiß nicht, ob ich die Dinge geändert hätte. Da gab es so viele gute Jahre. Gute Jahrzehnte, gute Jahrhunderte. Wir glaubten, in einem Paradies zu leben. Vielleicht war das ja unser Niedergang. Wir wollten, dass unser Leben perfekt ist, also ignorierten wir die Dinge, die nicht perfekt waren. Mangelnde Aufmerksamkeit vergrößerte Probleme, und vielleicht wäre der Krieg auch ohne die Bohrung unausweichlich gewesen.« Er trocknete sich mit der Macht ab.
»Rand.« Aviendha trat dicht an ihn heran. »Ich werde heute eine Gunst von dir erbitten.« Sie legte ihm die Hand auf den Arm. Ihre Haut war von ihren Tagen als Tochter voller Schwielen. Aviendha würde niemals eine zarte Dame wie die von den Höfen von Cairhien und Tear sein. Rand mochte das. Sie hatte Hände, die wussten, wie man arbeitete.
»Was für eine Gunst?«, fragte er. »Ich bin mir nicht sicher, dir heute überhaupt etwas abschlagen zu können.«
»Ich bin mir noch nicht sicher, was es sein wird.«
»Ich verstehe nicht.«
»Das musst du auch nicht«, sagte sie. »Und du brauchst mir auch nicht zu versprechen, dass du sie erfüllst. Ich fand, ich sollte dich vorher warnen, denn man greift seinen Geliebten nicht aus dem Hinterhalt an. Meine Gunst wird erfordern, dass du deine Pläne änderst, vielleicht sogar auf drastische Weise, und es wird wichtig sein.«
»Also gut …«
Sie nickte so geheimnisvoll wie immer und fing an, ihre Kleidung aufzusammeln, um sich für den Tag anzuziehen.