In ihrem Traum umrundete Egwene eine Glassäule. Sie erschien beinahe schon wie eine Säule aus Licht. Was hatte das zu bedeuten? Sie vermochte es nicht zu interpretieren.
Die Vision veränderte sich, und sie sah eine Kugel. Irgendwie war ihr klar, dass das die Welt war. Überall breiteten sich Sprünge aus. Mit fliegenden Fingern spannte sie Taue darum und strengte sich an, sie zusammenzuhalten. Es gelang ihr, ihre Zerstörung zu verhindern, aber es kostete so viel Kraft …
Sie verblich aus dem Traum und wachte ruckartig auf. Augenblicklich umarmte sie die Quelle und webte ein Licht. Wo war sie?
Sie trug ein Nachthemd und lag auf dem Bett in der Weißen Burg. Es handelte sich nicht um ihre eigenen Gemächer, die nach dem Angriff der Meuchelmörder noch immer nicht wieder bewohnbar waren. Ihr Arbeitszimmer verfügte über einen kleinen angrenzenden Schlafraum, und sie hatte sich dort hingelegt.
Ihr dröhnte der Schädel. Vage konnte sie sich daran erinnern, wie sie sich in der Nacht zuvor in ihrem Zelt auf dem Feld von Merrilor Berichte über den Untergang von Caemlyn angehört hatte, bis sie Mühe hatte, die Augen offen zu halten. Irgendwann zu später Stunde hatte Gawyn darauf bestanden, dass Nynaeve ein Wegetor zur Weißen Burg öffnete, damit sie in einem vernünftigen Bett und nicht auf einer Zeltpritsche schlafen konnte.
Murrend stand sie auf. Vermutlich hatte er recht gehabt, aber sie konnte sich deutlich daran erinnern, sich über seinen Tonfall geärgert zu haben. Niemand hatte ihn zurechtgewiesen, nicht einmal Nynaeve. Sie rieb sich die Schläfen. Die Kopfschmerzen waren bei Weitem nicht so schlimm wie damals, als sich Halima um sie »gekümmert« hatte, aber es reichte. Zweifellos gab ihr Körper seinem Unwillen darüber Ausdruck, wie wenig sie in den vergangenen Wochen geschlafen hatte.
Kurze Zeit später, nachdem sie sich angezogen und gewaschen hatte und sich etwas besser fühlte, verließ sie das Zimmer und fand Gawyn an Silvianas Schreibtisch sitzen. Er studierte einen Bericht und ignorierte eine Novizin, die neben der Tür stand.
»Wenn sie dich dabei erwischt, hängt sie dich an den Zehen aus dem Fenster«, meinte Egwene trocken.
Gawyn fuhr in die Höhe. »Das ist kein Bericht von ihrem Stapel«, protestierte er. »Das sind die neuesten Nachrichten von einer Schwester über Caemlyn. Sie kamen vor wenigen Minuten durch ein Wegetor.«
»Und du liest sie?«
Er errötete. »Verflucht, Egwene. Das ist mein Zuhause. Er war nicht versiegelt. Ich dachte …«
»Schon gut, Gawyn.« Sie seufzte. »Lass mal sehen.«
»Viel steht dort nicht«, sagte er mit einer Grimasse und gab ihr das Blatt. Ein Nicken von ihm ließ die Novizin aus dem Raum stürzen. Kurze Zeit später kam das Mädchen mit einem Tablett voller verschrumpelter Glockenfrüchte, Brot und einem Krug Milch zurück.
Egwene setzte sich an ihren Schreibtisch im Arbeitszimmer, um zu essen, und fühlte sich schuldig, als die Novizin ging. Der größte Teil der Aes Sedai aus der Burg und die Soldaten kampierten in Zelten auf dem Feld von Merrilor, während sie Obst aß – und es spielte keine Rolle, wie alt es war – und in einem bequemen Bett schlief.
Trotzdem hatten Gawyns Argumente Sinn gemacht. Wenn alle glaubten, sie sei in ihrem Zelt auf dem Feld, dann würden mögliche Attentäter dort zuschlagen. Nachdem die seanchanischen Meuchelmörder sie um ein Haar getötet hätten, war sie durchaus zu ein paar zusätzlichen Vorsichtsmaßnahmen bereit. Vor allem, wenn sie ihr halfen, etwas Schlaf zu finden.
»Diese Seanchanerin«, sagte sie und starrte in ihren Becher. »Die mit dem Illianer. Hast du mit ihr gesprochen?«
Er nickte. »Ich lasse die beiden von ein paar Burgwächtern bewachen. Nynaeve hat für sie gebürgt, gewissermaßen.«
»Wieso gewissermaßen?«
»Sie bezeichnete die Frau als wollköpfig, meinte aber, sie würde dir vermutlich nicht absichtlich schaden.«
»Großartig.« Nun, sie konnte eine Seanchanerin gebrauchen, die bereit war, zu reden. Beim Licht. Was, wenn sie zur gleichen Zeit gegen sie und die Trollocs kämpfen musste?
»Du hast dich nicht an deinen eigenen Rat gehalten«, sagte sie, als er sich auf einen der Stühle vor dem Tisch hinsetzte und sie seine geröteten Augen bemerkte.
»Jemand musste die Tür bewachen. Nachtwächter zu schicken hätte jedermann verraten, dass du nicht auf dem Feld bist.«
Sie nahm einen Bissen Brot – womit war das denn wohl gebacken? – und überflog den Bericht. Er hatte recht, aber ihr gefiel die Vorstellung nicht, dass er an einem Tag wie diesem nicht ausgeschlafen war. Der Behüterbund war auch nicht allmächtig.
»Also ist die Stadt tatsächlich verloren«, sagte sie. »Die Mauern haben Breschen, der Palast ist besetzt. Aber die Trollocs haben nicht die ganze Stadt niedergebrannt. Viele Viertel, aber nicht alles.«
»Ja«, erwiderte Gawyn. »Aber es ist offensichtlich, dass Caemlyn verloren ist.« Der Bund verriet ihr seine Anspannung.
»Es tut mir leid.«
»Viele sind entkommen, bei den vielen Flüchtlingen ist es jedoch schwer zu sagen, wie hoch die Stadtbevölkerung vor dem Angriff überhaupt war. Vermutlich sind Hunderttausende gestorben.«
Genug Menschen, um ein riesiges Heer aufzustellen, ausgelöscht in einer Nacht. Und das war vermutlich nur der Anfang der kommenden Gewalt. Wie viele waren bis jetzt in Kandor gestorben? Da konnte man nur schätzen.
In Caemlyn waren viele Vorräte des andoranischen Heeres gelagert gewesen. Egwene verspürte Übelkeit bei dem Gedanken, dass so viele Menschen, und zwar Hunderttausende, blindlings aus der brennenden Stadt ins Umland flüchteten. Und doch war dieser Gedanke weniger erschreckend als die Möglichkeit, dass Elaynes Truppen verhungerten. Vielleicht konnte sie mit Nahrung aushelfen, obwohl die Weiße Burg auch keine großen Reserven mehr hatte.
»Hast du die Bemerkung ganz unten gelesen?«, fragte Gawyn.
Das hatte sie nicht. Stirnrunzelnd suchte sie nach dem Satz, der ganz unten in Silvianas Handschrift stand. Rand al’Thor hatte verlangt, dass sich alle mit ihm trafen, und zwar um …
Sie schaute zu der alten Standuhr des Zimmers. Die Zusammenkunft war in einer halben Stunde. Sie stöhnte, dann schaufelte sie den Rest des Frühstücks in ihren Mund. Das war kein feines Benehmen, aber das Licht sollte sie verbrennen, wenn sie Rand mit leerem Magen gegenübertreten würde.
»Ich werde den Burschen erwürgen«, sagte sie und wischte sich das Gesicht ab. »Komm, los.«
»Wir können immer noch als Letzte kommen«, meinte Gawyn und stand auf. »Ihm zeigen, dass er uns keine Befehle geben kann.«
»Und ihm Gelegenheit geben, mit jedem zu sprechen, während ich nicht dabei bin, um für alles Gegenargumente zu bringen? Es gefällt mir nicht, aber im Augenblick hält Rand die Zügel. Alle sind viel zu neugierig, weil sie erfahren wollen, was er eigentlich plant.«
Sie webte ein Wegetor in ihr Zelt, in die Ecke, die sie für das Reisen reserviert hatte. Zusammen mit Gawyn trat sie hindurch und verließ das Zelt, betrat das Chaos auf dem Feld von Merrilor. Überall nur Gebrüll; in der Ferne donnerten Hufe, als Soldaten im Galopp ihre Positionen für die Zusammenkunft einnahmen. War Rand eigentlich klar, was er da getan hatte? Soldaten auf diese Weise zusammenzuziehen, sie nervös und voller Unsicherheit zurückzulassen, da konnte man auch direkt Feuerwerk in einen Topf packen und ihn auf den Herd stellen. Irgendwann würde schon etwas explodieren.
Egwene musste das Chaos in geordnete Bahnen lenken. Sie eilte aus dem Zelt, Gawyn einen Schritt hinter sich auf ihrer linken Seite, glättete ihre Miene. Die Welt brauchte eine Amyrlin.
Silviana wartete schon. Sie war ganz formell mit Stola und Stab ausgerüstet, als würden sie zu einer Zusammenkunft im Saal der Burg gehen.
»Kümmert Euch darum, sobald die Versammlung beginnt«, sagte Egwene und gab ihr den Bericht.
»Ja, Mutter«, erwiderte die Frau und setzte sich dann einen Schritt hinter ihr auf die rechte Seite. Egwene brauchte nicht hinzusehen, um zu wissen, dass sich Silviana und Gawyn geflissentlich ignorierten.