Es konnte aber auch etwas ganz anderes sein. Verlor jemand beim Spiel und konnte seine Wettschulden nicht bezahlen, dann verschwand er. Und oft wurden die Samma N’Sei, die nicht so zur Welt gekommen waren, wie sie sollten, bei der Ausbildung aussortiert. Sie verschwanden. Nur selten erlebten Leichen noch ihr Begräbnis.
Man sollte diesen Ort niederbrennen, dachte Isam mit aufgewühltem Magen. Ihn einfach niederbrennen, und zwar mit …
Jemand betrat die Schenke. Unglücklicherweise konnte Isam von seinem Platz aus nicht beide Zugänge beobachten. Sie war eine hübsche Frau in einem schwarzen, mit Rot abgesetzten Kleid. Isam erkannte weder ihre schlanke Gestalt noch das zarte Gesicht. Eigentlich war er der festen Überzeugung, sämtliche der Auserwählten erkennen zu können; er hatte sie oft genug im Traum beobachtet. Natürlich wussten sie das nicht. Sie hielten sich für die Herren dieses Ortes, und einige von ihnen waren sehr geschickt.
Aber er war genauso geschickt und außerordentlich gut darin, nicht gesehen zu werden.
Wer auch immer das war, sie hatte also eine Verkleidung angelegt. Warum sich an diesem Ort damit abgeben? Aber was nun auch dahintersteckte, sie musste diejenige sein, die ihn herbefohlen hatte. Keine Frau kam mit solcher Selbstsicherheit und hochmütigem Ausdruck in die Stadt, als würde sie noch von den Steinen erwarten, dass sie sprangen, wenn man es ihnen befahl. Isam ließ sich langsam auf ein Knie sinken.
Die Bewegung weckte den Schmerz in seinem Bauch, wo er verwundet worden war. Er hatte sich noch immer nicht von dem Kampf mit dem Wolf erholt. Etwas regte sich in ihm; Luc hasste Aybara. Ungewöhnlich. Normalerweise war Luc eher derjenige, der Verständnis hatte, und Isam der Harte. Nun, so sah er sich eben.
Aber was diesen besonderen Wolf anging, teilten sie eine Meinung. Einerseits war Isam begeistert; als Jäger hatte er es nur selten mit einer Herausforderung wie Aybara zu tun gehabt. Aber sein Hass saß tief. Er würde Aybara töten.
Isam überspielte die schmerzerfüllte Grimasse und senkte den Kopf. Die Frau ließ ihn dort knien und setzte sich an den Tisch. Ein paar Augenblicke lang klopfte sie mit dem Finger gegen den Zinnbecher, starrte den Inhalt an und schwieg.
Isam verhielt sich still. Viele der Narren, die sich selbst hochtrabend Schattenfreunde nannten, wanden sich, wenn jemand Macht über sie hatte. Tatsächlich würde sich Luc vermutlich ebenfalls winden, wie er zögernd zugeben musste.
Isam war ein Jäger. Mehr wollte er auch nicht sein. Wenn man damit zufrieden war, was man darstellte, dann gab es auch keinen Grund, sich darüber zu ärgern, wenn man auf seinen Platz verwiesen wurde.
Verflucht, die Seite seines Bauches brannte wirklich.
»Ich will ihn tot sehen«, sagte die Frau. Ihre Stimme war leise, aber voller Gefühle.
Isam sagte nichts.
»Ich will, dass man ihn wie ein Tier ausweidet, dass seine Gedärme zu Boden purzeln, dass sein Blut von den Raben getrunken wird, dass seine Knochen in der Hitze der Sonne bleichen und schließlich ganz grau werden und zerspringen. Ich will ihn tot sehen, Jäger.«
»Al’Thor.«
»Ja. Du hast in der Vergangenheit versagt.« Ihre Stimme war wie Eis. Ein Frösteln überkam ihn. Diese Frau war hart. So hart wie Moridin.
Nach den vielen Jahren seiner Dienste hatte er für die meisten Auserwählten schließlich nur noch Verachtung übrig. Trotz ihrer Macht und angeblichen Weisheit stritten sie sich wie die Kinder. Diese Frau ließ ihn aufhorchen, und er fragte sich, ob er sie tatsächlich alle ausspioniert hatte. Sie schien anders zu sein.
»Und?«, fragte sie. »Kannst du deine Fehlschläge rechtfertigen?«
»Jedes Mal, wenn mich einer der anderen mit dieser Jagd beauftragte, berief mich ein anderer wieder ab und wies mir eine neue Aufgabe zu.«
In Wahrheit hätte er lieber seine Jagd auf den Wolf fortgesetzt. Er würde keine Befehle ignorieren, jedenfalls nicht, wenn sie direkt von den Auserwählten kamen. Abgesehen von Aybara war eine Jagd für ihn genau wie die andere. Falls es sein musste, würde er diesen Drachen töten.
»Das wird dieses Mal nicht geschehen«, verkündete die Auserwählte, die noch immer seinen Becher anstarrte. Bis jetzt hatte sie ihn noch nicht angesehen, und sie hatte ihm auch nicht die Erlaubnis erteilt aufzustehen, also blieb er knien. »Die anderen haben alle ihren Anspruch auf dich aufgegeben. Und solange der Große Herr selbst dir keinen anderen Befehl erteilt, solange er dich nicht selbst zu sich zitiert, wirst du diese Aufgabe behalten. Töte al’Thor.«
Eine Bewegung vor dem Fenster veranlasste Isam, zur Seite zu blicken. Die Auserwählte sah nicht hin, als eine Gruppe Gestalten mit schwarzen Kapuzen vorbeieilte. Der Wind schien ihren Umhängen nichts anhaben zu können.
Begleitet wurden sie von Kutschen; ein in der Stadt ungewöhnlicher Anblick. Die Kutschen bewegten sich langsam und schaukelten dennoch auf der schlechten Straße. Isam brauchte keinen Blick auf die mit Vorhängen verhüllten Kutschenfenster zu werfen, um zu wissen, dass dort dreizehn Frauen fuhren. Genau die gleiche Anzahl wie die Myrddraal. Keiner der Samma N’Sei kehrte auf die Straße zurück. Für gewöhnlich mieden sie derartige Prozessionen. Aus offensichtlichen Gründen hatten sie tief verwurzelte Ansichten, was solche Dinge anging.
Die Kutschen passierten die Schenke. Hatte man also noch einen erwischt. Isam hätte geglaubt, dass diese Praxis nach der Säuberung des Makels ein Ende fand.
Bevor er den Blick wieder dem Boden der Schenke zuwenden konnte, sah er zufällig etwas, das überhaupt nicht hierherpasste. Aus den Schatten einer auf der anderen Straßenseite abzweigenden Gasse schaute ein kleines, schmutziges Gesicht zu. Weit aufgerissene Augen, aber eine verstohlene Haltung. Moridin und das Kommen mehrerer Dreizehn hatten die Samma N’Sei von der Straße vertrieben. Waren sie nicht da, konnten sich die Straßenkinder einer gewissen Sicherheit erfreuen. Vielleicht.
Isam wollte dem Kind zubrüllen, dort zu verschwinden. Einfach loszurennen, das Risiko einzugehen und zu versuchen, die Fäule zu durchqueren. Im Magen eines Wurms zu sterben war immer noch besser, als in dieser Stadt zu leben und zu erleiden, was sie mit einem anstellte. Geh! Flieh! Stirb!
Der Augenblick ging schnell vorüber, der Straßenbengel zog sich in die Schatten zurück. Isam wusste noch ganz genau, wie es war, dieses Kind zu sein. Damals hatte er so viel gelernt. Wie man etwas zu essen fand, das halbwegs vertrauenswürdig war und man nicht wieder auskotzen musste, sobald man herausgefunden hatte, was es eigentlich war. Wie man mit dem Messer kämpfte. Wie man vermied, gesehen oder bemerkt zu werden.
Und natürlich wie man einen Mann tötete. Jeder, der lange genug in der Stadt überlebte, lernte diese besondere Lektion.
Die Auserwählte starrte seinen Becher noch immer an. Ihm wurde klar, dass sie ihr Spiegelbild betrachtete. Was sah sie wohl darin?
»Ich werde Hilfe brauchen«, sagte er schließlich. »Der Wiedergeborene Drache hat Leibwächter, und er hält sich nur sehr selten im Traum auf.«
»Für Hilfe ist gesorgt«, erwiderte sie leise. »Aber du musst ihn finden, Jäger. Keines deiner üblichen Spielchen, zu versuchen, ihn zu dir zu locken. Lews Therin wird eine solche Falle spüren. Davon abgesehen wird er jetzt nicht mehr von seiner Sache abrücken. Die Zeit wird knapp.«
Sie sprach von dem katastrophalen Einsatz in den Zwei Flüssen. Damals hatte Luc das Kommando gehabt. Denn was wusste Isam schon von echten Städten und echten Menschen? Fast hätte er so etwas wie ein Verlangen nach diesen Dingen verspürt, obwohl das vermutlich Lucs Gefühle waren. Isam war bloß ein Jäger. Menschen waren nur von geringem Interesse für ihn, abgesehen von Dingen wie der besten Stelle für einen Pfeil, um das Herz zu treffen.