»Ja, aber warum? Was glaubst du können zu tun? Sie sind Aes Sedai.«
»Sie erwiesen mir schon zuvor Respekt.«
»Also du glauben, sie nehmen uns auf?«
»Vielleicht.« Sie musterte ihn. »Sprich es aus, Bayle. Du deutest etwas an.«
Er seufzte. »Warum muss man uns aufnehmen? Wir könnten irgendwo ein Schiff für uns finden, in Arad Doman. Wo sein weder Aes Sedai oder Seanchaner.«
»Ich würde nicht die Art Schiff führen, wie du sie schätzt.«
Er sah sie ausdruckslos an. »Ich weiß, wie man führt ein ehrliches Geschäft, Leilwin. Es wäre kein …«
Sie hob die Hand und brachte ihn zum Schweigen, dann legte sie sie ihm auf die Schulter. Sie blieben auf dem Pfad stehen. »Ich weiß, mein Geliebter. Ich weiß. Ich sage Dinge, um mich abzulenken, damit wir uns auf einem Strom drehen, der nirgendwohin führt.«
»Warum?«
Das eine Wort quälte sie wie ein Splitter unter einem Fingernagel. Warum? Warum war sie diesen langen Weg gegangen, war mit Matrim Cauthon gereist, hatte sich in die gefährliche Nähe der Tochter der Neun Monde begeben? »Mein Volk sieht die Welt auf eine gravierende Weise verkehrt. Und damit erschafft es ein Unrecht.«
»Man hat dich verstoßen, Leilwin«, sagte er leise. »Du sein nicht länger eine von ihnen.«
»Ich werde immer eine von ihnen sein. Mein Name wurde mir genommen, aber nicht mein Blut.«
»Die Beleidigung tun mir leid.«
Sie nickte knapp. »Ich stehe noch immer loyal zur Kaiserin, möge sie ewig leben. Aber die Damane … sie sind das Fundament ihrer Herrschaft. Mit ihnen sorgt sie für Ordnung, mit ihnen hält sie das Kaiserreich zusammen. Und die Damane sind eine Lüge.«
Sul’dam konnten die Macht lenken. Dieses Talent konnte erlernt werden. Noch Monate nachdem sie die Wahrheit entdeckt hatte, konnte sie längst nicht sämtliche Folgen überblicken. Ein anderer wäre mehr am politischen Nutzen interessiert gewesen, ein anderer wäre nach Seanchan zurückgekehrt und hätte diese Entdeckung dazu benutzt, um Macht zu erlangen. Beinahe wünschte sie sich, sie hätte genau das getan. Beinahe.
Aber das Flehen der Sul’dam … als sie diese Aes Sedai näher kennengelernt hatte, die so ganz anders waren, als man ihr ein Leben lang eingehämmert hatte …
Etwas musste geschehen. Aber wenn sie es tat, ging sie dann nicht das Risiko ein, das Kaiserreich zu Fall zu bringen? Sie musste sich sehr sorgfältig überlegen, wie sie vorging, wie bei den letzten Zügen einer Partie Shal.
Sie folgten der Dienerreihe in der Dunkelheit; Aes Sedai schickten oft Diener nach Dingen, die sie in der Weißen Burg zurückgelassen hatten, also war es nichts Besonderes, dass jemand hin- und herreiste – für Leilwin ein Vorteil. Sie passierten die Grenze des Aes-Sedai-Lagers, ohne angehalten zu werden.
Diese Mühelosigkeit überraschte sie, bis sie mehrere Männer am Wegesrand entdeckte. Sie waren leicht zu übersehen; etwas an ihnen ließ sie mit ihrer Umgebung verschmelzen, vor allem in der Dunkelheit. Sie bemerkte sie erst, als sich einer von ihnen bewegte und nur ein kurzes Stück hinter ihr und Bayle herging.
Sekunden später war es offensichtlich, dass er sie beide ausgesondert hatte. Vielleicht lag es an ihrer Gangart, ihrer Haltung. Sie hatten sich absichtlich schlicht gekleidet, allerdings wies Bayles Bart ihn als Illianer aus.
Leilwin blieb stehen, legte eine Hand auf Bayles Arm und drehte sich dann um, um sich ihrem Verfolger zu stellen. Anhand von Beschreibungen schloss sie, dass er ein Behüter war.
Der Behüter trat näher. Noch immer befanden sie sich an der Lagergrenze; die Zelte waren kreisförmig aufgestellt. Mit Unbehagen war ihr aufgefallen, dass einige Zelte von einem Licht erhellt wurden, das zu gleichmäßig brannte, um von einer Kerze oder Lampe zu stammen.
»Ho«, sagte Bayle und hob freundlich eine Hand. »Wir suchen eine Aes Sedai mit Namen Nynaeve al’Meara. Sein sie nicht hier, dann vielleicht die, die Elayne Trakand heißen?«
»Keine von ihnen hat hier ihr Lager aufgeschlagen«, sagte der Behüter. Er war ein kleiner Mann, aber stämmig. Mit diesen kräftigen Beinen hätte er einen guten Matrosen abgegeben. Seine Züge sahen … unfertig aus. Von einem Bildhauer aus dem Stein gemeißelt, der dann nach halber Arbeit das Interesse verloren hatte.
»Ah«, sagte Bayle. »Das sein dann unser Fehler. Könntet Ihr uns zeigen, wo sie lagern? Ihr müssen wissen, es sein eine Sache von großer Dringlichkeit.« Er sprach flüssig, ohne Umschweife. Falls nötig konnte Bayle sehr charmant sein. Auf jeden Fall mehr als Leilwin.
»Das kommt darauf an«, sagte der Behüter. »Eure Gefährtin, will die auch zu diesen Aes Sedai?«
»Sie will …«, setzte Bayle an, aber der Behüter hob die Hand. »Ich möchte es von ihr hören«, sagte er und musterte Leilwin.
»Ich wünschen es«, sagte Leilwin. »Meine alte Großmutter! Diese Frauen, sie uns haben eine Bezahlung versprochen, und ich werden sie bekommen! Aes Sedai lügen nicht. Das weiß jeder. Wenn Ihr uns nicht zu ihnen bringt, dann holt jemanden, der es tut!«
Der Behüter zögerte, seine Augen weiteten sich bei dem Wortschwall. Dann nickte er. »Hier entlang.« Er führte sie zur Lagerseite, fort vom Zentrum, aber er schien nicht länger misstrauisch zu sein.
Leilwin stieß leise die Luft aus und ging neben Bayle hinter dem Behüter her. Bayle sah sie stolz an und grinste so breit, dass er sie mit Sicherheit verraten hätte, hätte sich der Behüter umgedreht. Aber sie musste selbst ein Lächeln unterdrücken.
Der illianische Akzent war ihr nicht leichtgefallen, aber sie waren beide zu dem Schluss gekommen, dass ihr seanchanischer Akzent gefährlich war, vor allem wenn sie sich unter Aes Sedai bewegten. Bayle behauptete noch immer, dass kein wahrer Illianer sie als eine der Ihren akzeptieren würde, aber offensichtlich war sie gut genug, um einen Fremden zu täuschen.
Sie verspürte Erleichterung, als sie sich vom Lager der Aes Sedai entfernten. Zwei Freundinnen zu haben, die Aes Sedai waren – und es waren Freundinnen, trotz ihrer Schwierigkeiten miteinander –, bedeutete nicht, dass sie in einem Lager voller Schwestern sein wollte. Der Behüter führte sie zu einer Fläche ungefähr in der Mitte des Feldes von Merrilor. Dort befand sich ein sehr großes Lager mit vielen kleinen Zelten.
»Aiel«, raunte Bayle. »Es müssen Zehntausende sein.«
Interessant. Von den Aiel erzählte man sich Furcht einflößende Geschichten, Legenden, die unmöglich alle der Wahrheit entsprechen konnten. Trotzdem ließen diese Geschichten trotz ihrer Übertreibungen erahnen, dass es die besten Krieger auf dieser Seite des Ozeans waren. Unter anderen Umständen hätte Leilwin gern mit einem oder auch zwei von ihnen einen Übungskampf absolviert. Sie legte eine Hand auf die Seite ihres Rucksacks; sie hatte ihre Keule in einer langen Tasche an der Seite griffbereit untergebracht.
Auf jeden Fall waren diese Aiel groß. Sie kamen an einigen vorbei, die anscheinend völlig entspannt an Lagerfeuern saßen. Aber diese Augen beobachteten deutlich schärfer als der Behüter. Gefährliche Männer, zum Töten bereit, während sie sich am Feuer entspannten. Sie konnte die Banner nicht erkennen, die über diesem Lager am Nachthimmel flatterten.
»Welcher König oder welche Königin herrscht in diesem Lager, Behüter?«, fragte sie laut.
Der Mann sah sie an; seine Züge blieben in den nächtlichen Schatten unergründlich. »Euer König, Illianerin.«
Bayle erstarrte.
Mein …
Der Wiedergeborene Drache. Es erfüllte sie mit Stolz, dass sie nicht aus dem Tritt kam, aber es war knapp. Ein Mann, der die Macht lenken konnte. Das war schlimmer als die Aes Sedai, viel schlimmer.
Der Behüter führte sie zu einem Zelt in der ungefähren Lagermitte. »Ihr habt Glück, ihr Licht brennt.« Am Zelteingang standen keine Wächter, also rief er und erhielt die Erlaubnis zum Eintreten. Mit einer Hand zog er die Plane zur Seite und nickte ihnen zu, aber seine andere Hand lag auf dem Schwertgriff, und seine Haltung war kampfbereit.