Leilwin verabscheute die Vorstellung, dieses Schwert im Rücken zu haben, aber sie trat wie gebeten ein. Das Zelt wurde von einer dieser unnatürlichen Lichtkugeln erhellt, und eine vertraute Frau in einem grünen Kleid saß an einem Schreibtisch und schrieb einen Brief. Nynaeve al’Meara war eine Telarti, wie man in Seanchan gesagt hätte – eine Frau mit Feuer in der Seele. Leilwin hatte gelernt, dass Aes Sedai eigentlich so ruhig wie die Oberfläche eines Teichs sein sollten. Nun, gelegentlich mochte das auf diese Frau auch zutreffen – aber sie war die Art von stillem Wasser, das man nur eine Biegung von einem wilden Wasserfall entfernt fand.
Nynaeve schrieb weiter, als sie eintraten. Sie trug keinen Zopf mehr; ihr Haar fiel nur noch locker bis zu ihren Schultern. Der Anblick war so seltsam wie ein Schiff ohne Mast.
»Ich habe sofort Zeit für Euch, Sleete«, sagte sie. »Ehrlich, so wie Ihr Euch in letzter Zeit in meiner Nähe herumtreibt, lässt mich an eine Vogelmutter denken, die ein Ei verloren hat. Hatte Eure Aes Sedai nichts für Euch zu tun?«
»Lan ist für viele von uns wichtig, Nynaeve Sedai«, erwiderte der Behüter – Sleete – ganz ruhig mit grollender Stimme.
»Ach, und für mich ist er unwichtig? Also wirklich, ich frage mich, ob man Euch und Euresgleichen nicht losschicken sollte, um Holz zu hacken. Wenn noch ein Behüter kommt und fragt, ob ich etwas brauche …«
Sie schaute auf und erblickte endlich Leilwin. Augenblicklich wurde ihre Miene reglos. Kalt. Eiskalt. Leilwin brach der Schweiß aus. Die Frau hielt ihr Leben in den Händen. Warum hatte dieser Sleete sie nicht zu Elayne bringen können? Vielleicht hätten sie Nynaeve besser gar nicht erst erwähnt.
»Diese beiden wollten Euch sehen«, sagte Sleete. Sein Schwert hatte die Scheide verlassen. Leilwin hatte das gar nicht bewusst wahrgenommen. Domon murmelte leise etwas. »Sie behaupteten, Ihr hättet ihnen eine Arbeit gegeben, und sie seien wegen der Bezahlung hier. Allerdings haben sie nicht in der Burg vorgesprochen und eine Möglichkeit gefunden, durch eines der Wegetore zu schlüpfen. Der Mann kommt aus Illian. Die Frau aus einem anderen Land. Sie verbirgt ihren Akzent.«
Vielleicht war sie ja doch nicht so gut mit dem Akzent, wie sie gedacht hatte. Sie warf einen Blick auf das Schwert. Wenn sie sich zur Seite rollte, verfehlte er sie vielleicht, vorausgesetzt, er zielte auf Brust oder Hals. Sie konnte die Keule ziehen und …
Sie stand einer Aes Sedai gegenüber. Niemals würde sie ausweichen können. Sie wäre in einem Gewebe der Einen Macht gefangen oder Schlimmeres. Sie schaute Nynaeve an.
»Ich kenne sie, Sleete«, sagte Nynaeve mit kühler Stimme. »Das war richtig von Euch, sie zu mir zu bringen. Vielen Dank.«
Sein Schwert glitt zurück in die Scheide, und Leilwin verspürte einen kühlen Luftzug, als er so leise wie ein Flüstern aus dem Zelt verschwand.
»Falls Ihr gekommen seid, um Verzeihung zu erbitten«, sagte Nynaeve, »dann steht Ihr vor der falschen Person. Ich hätte nicht übel Lust, Euch den Behütern zur Befragung zu übergeben. Vielleicht können sie ja aus Eurem verräterischen Verstand etwas Nützliches über Euer Volk herausbluten lassen.«
»Ich freue mich auch, Euch wiederzusehen, Nynaeve«, erwiderte Leilwin kühl.
»Also was ist passiert?«, verlangte Nynaeve zu wissen.
Was passiert war? Wovon sprach die Frau da überhaupt?
»Ich haben es versucht«, sagte Bayle plötzlich voller Bedauern. »Ich haben gegen sie gekämpft, aber sie haben mich mühelos überwältigt. Sie hätten mein Schiff anzünden können, uns versenken und meine Männer töten.«
»Es wäre besser, Ihr und alle an Bord wärt gestorben, Illianer«, sagte Nynaeve. »Das Ter’angreal geriet in die Hände einer der Verlorenen; Semirhage verbarg sich unter den Seanchanern, gab vor, irgendeine Art Richterin zu sein. Eine Wahrheitssprecherin? Heißt das so?«
»Ja«, sagte Leilwin leise. Jetzt war ihr alles klar. »Ich bedaure es, meinen Eid gebrochen zu haben, aber …«
»Ihr bedauert es, Egeanin?«, stieß Nynaeve hervor, schoss in die Höhe und stieß dabei ihren Stuhl um. »›Bedauern‹ ist nicht unbedingt das Wort, das ich wählen würde, wenn ich die Welt selbst in Gefahr gebracht hätte, wenn ich uns an den Rand der Finsternis geführt und fast in den Abgrund gestoßen hätte! Sie hat von dem Gerät Kopien herstellen lassen, Frau. Eine endete um den Hals des Wiedergeborenen Drachen. Der Wiedergeborene Drache, der von einer der Verlorenen kontrolliert wird!«
Nynaeve warf die Hände in die Luft. »Beim Licht! Euretwegen trennten uns nur ein paar Herzschläge vom Ende! Dem Ende von allem. Kein Muster mehr, keine Welt mehr, nichts. Wegen Eurer Sorglosigkeit hätten Millionen von Leben ausgelöscht werden können.«
»Ich …« Plötzlich erschienen Leilwin ihre Fehler monumental. Ihre Existenz – weg. Ihr Name – weg. Ihr Schiff hatte ihr die Tochter der Neun Monde höchstpersönlich weggenommen. Und doch war das angesichts dieser Tat alles völlig bedeutungslos.
»Ich haben gekämpft«, sagte Bayle entschieden. »Ich haben gekämpft mit allem, was mir zur Verfügung stand.«
»Anscheinend hätte ich mich dir anschließen sollen«, sagte Leilwin.
»Ich haben versucht, das zu erklären«, sagte Bayle grimmig. »Viele Male, verflucht, aber das haben ich.«
»Pah!« Nynaeve rieb sich die Stirn. »Was macht Ihr hier, Egeanin? Ich hatte gehofft, dass Ihr tot seid. Wärt Ihr bei dem Versuch gestorben, Euren Eid zu erfüllen, dann hätte ich Euch keinen Vorwurf machen können.«
Ich übergab es Suroth persönlich, dachte Leilwin. Einen Preis, den ich für mein Leben bezahlte, der einzige Ausweg.
»Nun?« Nynaeve starrte sie finster an. »Heraus damit, Egeanin.«
»Diesen Namen trage ich nicht länger.« Leilwin ging auf die Knie. »Man hat mir alles genommen, einschließlich meiner Ehre, wie es jetzt scheint. Ich übergebe mich Euch als Bezahlung.«
Nynaeve schnaubte. »Im Gegensatz zu Euch Seanchanern halten wir keine Menschen wie Tiere.«
Leilwin blieb knien. Bayle legte ihr die Hand auf die Schulter, versuchte sie aber nicht auf die Füße zu ziehen. Er verstand durchaus, warum sie das tun musste. Er war fast zivilisiert geworden.
»Hoch mit Euch«, fauchte Nynaeve. »Beim Licht, Egeanin. Ihr wart doch einmal so stark, dass Ihr Steine kauen und Sand ausspucken konntet.«
»Es ist meine Kraft, die mich dazu verpflichtet«, sagte sie und senkte den Blick. Begriff Nynaeve denn nicht, wie schwierig das war? Es wäre viel leichter gewesen, sich selbst die Kehle durchzuschneiden, nur dass sie einfach nicht mehr genug Ehre hatte, um ein so einfaches Ende verlangen zu können.
»Steht auf!«
Leilwin gehorchte.
Nynaeve schnappte sich ihren Umhang von der Pritsche und warf ihn sich über. »Kommt. Wir bringen Euch zur Amyrlin. Vielleicht weiß sie ja, was man mit Euch anstellen soll.«
Nynaeve stürmte in die Nacht hinaus, und Leilwin folgte ihr. Ihre Entscheidung war getroffen. Es gab nur einen Weg, der Sinn machte, einen Weg, um wenigstens einen Funken Ehre zu bewahren und vielleicht dabei ihrem Volk zu helfen, die Lügen zu überleben, die es sich schon so lange erzählte.
Leilwin Schiffslos gehörte jetzt zur Weißen Burg. Was auch immer sie sagen würden, was auch immer sie mit ihr anstellten, diese Tatsache würde sich nicht ändern. Sie war ihr Besitz. Sie würde die Da’covale dieser Amyrlin sein und diesen Sturm absegeln wie ein Schiff, dessen Segel der Wind zu Fetzen zerrissen hatte.
Vielleicht konnte sie ja mit den kläglichen Resten ihrer Ehre das Vertrauen dieser Frau erwerben.
»Das ist Teil einer alten Schmerzlinderung der Grenzländer«, sagte Melten und entfernte den Verband von Talmanes’ Seite. »Die Blasenblätter verlangsamen den Makel des verfluchten Metalls.«