Des Morgens erzählte der Vater beim Tee:
»Es ist Brandstiftung! Als der Schuldige wurde dieser Trunkenbold, der Uhrmacher, festgestellt. Man hat ihn verprügelt, er wird gewiß sterben. Barski hat ihn wohl zugrunde gerichtet, und er war auf seinen Sohn Stiopka böse. Es ist eine dunkle Sache!«
Alexej trank ruhig seine Milch. Nikita aber fühlte, daß ihm die Hände zitterten, und er steckte sie zwischen die Knie und preßte sie fest zusammen. Der Vater, der diese Bewegung bemerkte, fragte:
»Warum duckst du dich so?«
»Mir ist nicht wohl.«
»Euch allen ist nicht wohl. Bloß ich bin gesund ...«
Er stieß zornig das nicht geleerte Teeglas von sich und ging.
Artamonows Werk bevölkerte sich rasch; zwei Werst von der Fabrik entfernt wurden auf den mit Ginster bedeckten Hügeln, inmitten des spärlichen Tannengehölzes kleine, niedrige Hütten ohne Höfe und Zäune erbaut, die von weitem an Bienenkörbe erinnerten. Für einsame und unverheiratete Arbeiter baute Artamonow über einem nicht zu tiefen Hohlweg, dem Bett eines ausgetrockneten Flusses, dessen Namen man vergessen hatte, eine langgestreckte Baracke mit einem einseitig geneigten Dach und mit drei Schornsteinen darauf. Die Fenster waren klein, um die Wärme zu erhalten; sie verliehen der Baracke eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Stall, und die Arbeiter benannten sie »Der Hengstpalast«.
Ilja Artamonow prahlte immer lauter, ohne aber den Hochmut der Reichen anzunehmen. Er war im Verkehr mit den Arbeitern schlicht, schmauste auf ihren Hochzeiten, taufte ihre Kinder und plauderte gern an Feiertagen mit den alten Webern; sie lehrten ihn, die Bauern zu veranlassen, den Flachs auf früheren Äckern und in abgebrannten Wäldern zu säen,, was sich als sehr günstig erwies. Die alten Weber waren über das Entgegenkommen des Prinzipals entzückt und belehrten die Jugend, da sie in ihm noch den Bauer sahen, dem das Schicksal gnädig lächelte:
»Seht, wie man Geschäfte führen muß!«
Ilja Artamonow belehrte dagegen seine Kinder:
»Bauern und Arbeiter sind vernünftiger als Bürger. Die Städter haben schwaches Fleisch und einen abgenutzten Verstand; der Städter ist gierig und feige. Bei ihm ist alles kleinlich und nichts von Dauer. Die Städter können nie Maß halten; der Bauer verbleibt aber unverrückbar in den Grenzen der Wahrheit, ohne sich hin- und hertreiben zu lassen. Auch seine Wahrheit ist einfach: zum Beispieclass="underline" Gott, Brot, der Zar! Der Bauer ist in allem einfach, haltet euch an ihn! Du sprichst zu kühl mit den Arbeitern, Pjotr, und immer nur von der Arbeit, – das gehört sich nicht, man muß auch über Dummheiten zu plaudern verstehen. Man muß scherzen können: ein lustiger Mensch wird besser verstanden.«
»Ich verstehe nicht zu scherzen«, sagte Pjotr und zupfte sich gewohnheitsmäßig am Ohr.
»So lerne es. Ein Scherz ist im Augenblick erdacht und wirkt eine Stunde lang nach. Auch Alexej geht mit den Leuten ungeschickt um, er schreit immer gleich und hat an allem etwas auszusetzen ...«
»Sie sind alle Schwindler und Faulpelze«, erwiderte Alexej herausfordernd.
Artamonow schrie ihn streng an:
»Was weißt du viel von den Menschen?« Dabei lächelte er sich aber in den Bart hinein und hielt sich, um das Lächeln zu verbergen, die Hand vor; es fiel ihm ein, wie kühn und verständig Alexej mit den Städtern über den Kirchhof gestritten hatte: die Driomower wollten Artamonows Arbeiter nicht auf ihrem Kirchhof beerdigen lassen. Man war genötigt, Pomialow einen großen Teil seines Erlengehölzes abzukaufen und einen eigenen Kirchhof anzulegen.
»Ein Kirchhof«, sann Tichon Wialow nach, als er mit Nikita die dünnen, schwächlichen Bäume wegschlug. »Wir überlegen uns die Sache nicht. Kirchhöfe sind Höfe, wo man eine Ewigkeit lang zu Gast ist. Kirchhöfe sind Häuser, Städte.«
Nikita sah, daß Wialow leicht und geschickt arbeitete und dabei mehr Verstand bewies als in seinen dunklen und stets unerwarteten Worten lag. Er fand, ebenso wie der Vater, bei jeder Sache rasch den Punkt des geringsten Widerstandes, sparte an Kraft und wirkte durch List. Doch war der Unterschied deutlich sichtbar: Der Vater packte alles mit Eifer an, während Wialow anscheinend ungern und nur aus Gnade arbeitete, wie ein Mensch, der weiß, daß er zu etwas Besserem befähigt ist. Er sprach auch ebenso: wenig, herablassend, mit Nachdruck, mit einer gewissen Lässigkeit und in Andeutungen: »Ich weiß noch sehr viel, ich könnte noch ganz andere Dinge sagen ...«
Und immer glaubte Nikita in seinen Worten irgendwelche Andeutungen zu hören, die in ihm Ärger, Furcht und eine scharfe, unruhige Neugierde in bezug auf diesen Menschen erregten.
»Du weißt viel«, sagte er zu Wialow. Der erwiderte ohne Hast:
»Darum lebe ich auch. Es schadet nicht, daß ich viel weiß, – ich weiß es nur für mich selbst. Mein Wissen ist bei einem Geizhals im Koffer versteckt, – es ist für niemanden sichtbar, sei nur ruhig ...«
Es war nicht zu merken, daß Tichon die Menschen nach ihren Gedanken ausfragte; er prüfte sie nur zudringlich mit den vogelartigen, blinzelnden Augen und, nachdem er die fremden Gedanken gleichsam herausgesaugt hatte, sprach er plötzlich von Dingen, die er nicht hätte wissen sollen. Manchmal wünschte Nikita, Wialow möchte sich die Zunge abbeißen, er möchte sie sich ebenso abhacken, wie er es mit seinem Finger gemacht hatte, – er hatte sich auch den Finger nicht so abgehackt, wie er es hätte tun sollen: es war der Ringfinger und nicht an der rechten, sondern an der linken Hand. Der Vater, Pjotr und alle übrigen hielten ihn für dumm, Nikita war aber anderer Ansicht. In ihm wuchs immer mehr das gemischte Gefühl von Neugierde und von Furcht diesem seltsamen Mann mit den breiten Backenknochen gegenüber. Das Gefühl der Furcht verstärkte sich besonders, als Wialow auf dem Rückwege aus dem Walde plötzlich zu Nikita sagte:
»Und du grämst dich immerzu! Du solltest es ihr doch sagen, du seltsamer Kauz! Sie wird mit dir Mitleid haben, sie scheint gut zu sein.«
Der Bucklige blieb stehen, vor Schreck erstarrte ihm das Herz. Die Füße waren wie versteinert, und er murmelte fassungslos:
»Was soll ich sagen? Wem?«
Wialow blickte ihn an und schritt weiter. Nikita packte ihn beim Hemdärmel, da stieß Tichon verächtlich seine Hand weg.
»Nun, warum heuchelst du?«
Nikita warf die im Walde ausgegrabene Birke von der Schulter auf die Erde, er wollte Tichon in das rauhe Gesicht schlagen und ihn zum Schweigen bringen, doch der blickte mit blinzelnden Augen in die Ferne und sprach ruhig, als wäre es etwas ganz Gewöhnliches:
»Und wenn sie auch nicht gut ist, kann sie sich doch dir zuliebe eine Stunde lang so stellen. Die Weiber sind neugierig, eine jede will einen andern Mann auskosten und erfahren, ob es etwas gibt, das noch süßer als Zucker ist. Braucht denn unsereiner viel? Eins, zwei – und man ist satt und gesund! Du verzehrst dich aber! Versuch' doch, es ihr zu sagen, – vielleicht ist sie einverstanden.«
Nikita glaubte aus seinen Worten ein Gefühl freundschaftlichen Mitleids herauszuhören; das kam ihm neu und fremd vor und verursachte ihm ein bitteres Brennen in der Kehle. Zugleich schien ihm aber, daß Tichon ihn entkleidete und entblößte.
»Du hast dir etwas Unsinniges ausgedacht«, sagte er.
In der Stadt läuteten die Glocken und riefen zur Abendmesse. Tichon schüttelte die Bäume auf seiner Schulter, ging, mit dem eisernen Spaten auf die Erde klopfend, weiter und sagte ebenso ruhig:
»Du brauchst von mir nichts zu befürchten. Du tust mir ja leid, du bist ein angenehmer, eigenartiger Mensch. Ihr Artamonows seid alle sehr eigenartig. Du hast in deinem Charakter gar nichts von einem Buckligen und bist doch bucklig.«
Nikitas Schrecken schmolz in heißer Trauer dahin, die ihm die Augen trübte, ihn wie einen Betrunkenen stolpern ließ und in ihm den Wunsch wachrief, sich lang auf die Erde zu legen und sich auszuruhen. Er bat leise:
»Schweige davon.«