»Ich habe ja gesagt: es ist wie in einem Koffer verschlossen.«
»Vergiß es! Laß dir vor ihr nichts entschlüpfen.«
»Ich spreche mit ihr nie. Wozu sollte ich es ihr sagen?«
Beide legten den Heimweg schweigend zurück. Die blauen Augen des Buckligen waren jetzt größer, runder und trauriger, er sah an den Menschen vorbei, hinter ihre Schultern, er wurde noch schweigsamer und unscheinbarer. Natalia merkte irgend etwas:
»Warum gehst du so traurig herum?« fragte sie.
Nikita antwortete:
»Es gibt viel zu tun.«
Er ging schnell weg. Das verletzte Natalia; sie hatte schon mehr als einmal gefühlt, daß der Schwager mit ihr nicht so freundlich wie früher war. Sie führte ein langweiliges Leben. Im Laufe von vier Jahren hatte sie zwei Mädchen geboren und war schon wieder schwanger.
»Warum bringst du lauter Mädchen zur Welt, was soll man mit ihnen anfangen?« brummte der Schwiegervater, als sie mit dem zweiten niederkam und schenkte ihr diesmal nichts. Er beklagte sich bei Pjotr:
»Ich brauche Jungs – keine Schwiegersöhne. Habe ich denn das Werk für fremde Leute in Gang gebracht?«
Jedes Wort des Schwiegervaters weckte in der Frau ein Schuldgefühl; sie wußte, daß auch ihr Mann unzufrieden mit ihr war. Wenn sie des Nachts neben ihm lag, blickte sie durchs Fenster auf die fernen Sterne, strich sich über den Leib und bat im stillen:
»Herr – schenk' mir ein Söhnchen ...«
Manchmal wollte sie aber ihrem Mann und dem Schwiegervater laut ins Gesicht schreien:
»Mit Absicht, euch zum Trotz will ich Mädchen gebären!«
Und in ihr erstand der Wunsch, irgendetwas Seltsames, allen Unerwartetes, Gutes zu tun, damit alle Menschen freundlicher zu ihr seien, oder aber etwas ganz Böses, damit sie alle erschräken. Doch sie konnte sich weder das Gute, noch das Böse ausdenken.
Sie stand beim Morgengrauen auf, ging in die Küche hinunter und bereitete zusammen mit der Köchin den Imbiß zum Tee. Dann lief sie nach oben, um die Kinder zu füttern, darauf gab sie dem Schwiegervater, dem Mann und den Schwägern ihren Tee, fütterte wieder die Kinder, nähte, besserte für alle die Wäsche aus und ging nach dem Essen mit den Kindern in den Garten, wo sie bis zum Abendtee blieb. In den Garten sahen kecke Spulerinnen hinein und bewunderten schmeichlerisch die Schönheit der kleinen Mädchen. Natalia lächelte, glaubte aber dem Lob nicht, – ihre Kinder erschienen ihr häßlich.
Manchmal tauchte zwischen den Bäumen Nikita auf, der einzige Mensch, der zu ihr freundlich gewesen war. Wenn sie ihn aber jetzt aufforderte, bei ihr zu sitzen, antwortete er mit schuldiger Miene:
»Verzeih, ich habe keine Zeit.«
In ihr erstand unmerklich ein kränkender Gedanke: der Bucklige sei mit ihr nicht aufrichtig freundlich gewesen; ihr Mann habe ihn nur als Wächter angestellt, um ihr und Alexej aufzupassen. Sie fürchtete sich vor Alexej, denn er gefiel ihr; sie wußte, der schöne Schwager brauchte nur zu wollen, und sie würde nicht widerstehen. Er wollte aber nicht, er schien sie nicht einmal zu sehen; das beleidigte sie und erregte in ihr feindselige Gefühle gegen den kecken, schlagfertigen Alexej.
Um fünf Uhr wurde Tee getrunken, um acht Abendbrot gegessen. Dann wusch Natalia die Kleinen, fütterte sie und brachte sie zu Bett; sie betete lange auf den Knien und legte sich zu ihrem Mann in der Hoffnung, einen Sohn zu empfangen, wenn der Mann im Bett brummte:
»Jetzt ist's genug. Komm ins Bett!«
Sie bekreuzte sich eilig, unterbrach das Gebet, ging zu ihm und legte sich gehorsam nieder. Manchmal, sehr selten, scherzte Pjotr:
»Warum betest du so viel? Du kannst dir doch nicht alles erbitten, – es reicht sonst für die andern nicht ...«
Wenn sie des Nachts durch das Weinen eines Kindes geweckt wurde, fütterte und beruhigte sie es und ging ans Fenster, um lange in den Garten und auf den Himmel zu blicken und wortlos über sich, über die Mutter, den Schwiegervater und ihren Mann nachzudenken – über alles, was ihr der unmerklich verstrichene, schwere Tag gebracht hatte. Es war seltsam, daß man die gewohnten Stimmen, die lustigen oder traurigen Lieder der Arbeiterinnen, das mannigfaltige Hämmern und Lärmen des Werkes, sein bienenartiges Summen nicht vernahm; dieses ununterbrochene, eilige Dröhnen erfüllte den ganzen Tag, sein Widerhall schwebte durch die Zimmer, raschelte im Laub der Bäume, strich über die Fensterscheiben; das Geräusch der Arbeit zwang zu lauschen und störte beim Denken.
In der nächtlichen Stille, im schläfrigen Schweigen alles Lebendigen fielen ihr die grausigen Erzählungen Nikitas von den von Tartaren gefangengenommenen Frauen oder die Legenden von den heiligen Einsiedlerinnen und Märtyrerinnen ein, es erstanden in ihr auch die Märchen von einem glücklichen, fröhlichen Leben, am häufigsten tauchten aber erlittene Kränkungen in ihrer Erinnerung auf.
Ihr Schwiegervater sah über sie hinweg wie über einen leeren Raum, und das war noch am besten; häufig, wenn er ihr im Flur oder im Zimmer unter vier Augen begegnete, betastete er sie aber mit scharfem Blick schamlos von der Brust bis zu den Knien und schnaubte feindselig.
Ihr Mann war unfreundlich und kalt; sie fühlte, daß er sie manchmal so anblickte, als hinderte sie ihn daran, etwas anderes, hinter ihrem Rücken Verborgenes zu sehen. Oft legte er sich, ausgekleidet wie er war, nicht hin, sondern saß lange auf dem Bettrand, stützte sich mit der einen Hand auf das Federbett und zupfte mit der andern an seinem Ohr oder rieb sich den Bart auf der Wange, als hätte er Zahnschmerzen. Sein häßliches Gesicht zog sich bald kläglich, bald zornig zusammen; in solchen Augenblicken wagte Natalia nicht, sich niederzulegen. Er sprach wenig und nur von häuslichen Angelegenheiten und kam immer seltener auf das Leben der Bauern und Gutsbesitzer zurück, das Natalia unverständlich war. Im Winter fuhr er mit ihr an den Feiertagen, zu Weihnachten und in der Butterwoche durch die Stadt spazieren. Man spannte einen ungeheuren Rappen vor den Schlitten. Der Hengst hatte messinggelbe, von Blutäderchen durchzogene Augen, er schüttelte zornig den Kopf und wieherte laut. Natalia fürchtete sich vor diesem Pferd, und Tichon Wialow steigerte noch ihre Angst durch die Worte:
»Das ist ein Edelmannspferd; es ist über die fremde Herrschaft erbost.«
Die Mutter kam häufig. Natalia beneidete sie um ihr freies Leben und den festlichen Glanz ihrer Augen. Dieser Neid wurde noch schärfer und kränkender, wenn sie merkte, wie jugendlich der Schwiegervater mit der Mutter scherzte, wie selbstzufrieden er sich den Bart glättete und sich seiner Geliebten freute, wie sie wie eine Pfauhenne einherschritt, sich in den Hüften wiegte und schamlos vor ihm mit ihrer Schönheit prahlte. Die Stadt wußte längst von ihrem Verhältnis mit dem Gevatter, verurteilte sie streng deshalb und wandte sich von ihr ab. Angesehene Leute verboten ihren Töchtern, Natalias Freundinnen, sie, die Tochter einer lasterhaften Frau, die Schwiegertochter eines fremden, zweifelhaften Bauern und die Gattin eines vor Stolz aufgeblasenen, mürrischen Mannes zu besuchen. Die kleinen Freuden des Mädchenlebens erschienen jetzt Natalia groß und prächtig.
Es kränkte sie zu sehen, wie die vorher so freimütige Mutter jetzt mit den Menschen schlau und falsch war; sie schien sich vor Pjotr zu fürchten und sprach mit ihm, um es zu verbergen, in schmeichelnden, von seiner Tüchtigkeit entzückten Worten; sie fürchtete wohl auch Alexejs spöttische Augen, scherzte freundlich, tuschelte mit ihm und machte ihm oft Geschenke; zum Geburtstag schenkte sie ihm eine Porzellanuhr mit Figürchen von Schafen und mit einer blumengeschmückten Frau; dieser schöne, kunstvoll ausgeführte Gegenstand brachte alle zum Staunen.
»Die Uhr ist mal als Pfand bei mir geblieben; ich gab nur drei Rubel dafür, sie ist alt und geht nicht«, erklärte die Mutter. »Wenn Aljoscha heiratet, mag er damit sein Haus schmücken.«
»Das könnte ich ja auch tun«, dachte Natalia.
Die Mutter erkundigte sich genau nach dem Haushalt und belehrte sie langweilig: