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»Wer hat mich erweckt? Wer hat den Zauber gebrochen?« fragte sie.

»Ich glaube, das muß ich gewesen sein«, entgegnete Digory.

»Du?« fragte die Königin und legte die Hand auf seine Schulter – eine wunderschöne weiße Hand, die sich jedoch anfühlte wie eine stählerne Zange. »Du? Du bist doch nur ein Kind, ein ganz gewöhnliches Kind! Gleich auf den ersten Blick kann man sehen, daß in deinen Adern nicht ein einziger Tropfen königlichen oder edlen Blutes fließt. Wie kannst du es wagen, dieses Gebäude zu betreten?«

»Wir sind durch Zauberkraft aus einer anderen Welt hierhergekommen«, erklärte Polly, die der Meinung war, es sei höchste Zeit, daß die Königin nicht nur Digory, sondern auch ihr Beachtung schenkte.

»Stimmt das?« fragte die Königin, zu Digory gewandt, ohne Polly auch nur einen einzigen Blick zuzuwerfen.

»Ja, das stimmt«, bestätigte er.

Die Königin legte ihm die andere Hand unters Kinn und hob es an, damit sie sein Gesicht besser sehen konnte.

Digory versuchte, ihren Blick zu erwidern, aber schon nach kürzester Zeit mußte er die Augen senken, denn in ihren Augen lag etwas, dem er sich nicht gewachsen fühlte. Nachdem sie ihn lange durchdringend angestarrt hatte, ließ sie sein Kinn los und sagte: »Du bist kein Zauberer. Du trägst das Zeichen nicht. Du mußt der Diener eines Zauberers sein. Du bist mit dem Zauber eines Andern hierher gekommen.«

»Mein Onkel Andrew war es«, erklärte Digory.

In diesem Augenblick erklang von draußen, aber ganz aus der Nähe, ein Grollen, ein Knirschen und dann das Krachen einstürzender Mauern. Unter ihren Füßen bebte die Erde.

»Wir sind in großer Gefahr«, sagte die Königin. »Der ganze Palast stürzt ein. Wenn wir nicht schnell von hier verschwinden, dann wird uns das Geröll unter sich begra­ben.« Sie sprach so ruhig, als rede sie lediglich darüber, wie spät es jetzt sei. »Kommt!« befahl sie und streckte die Hände nach den Kindern aus. Polly schmollte. Sie mochte die Königin nicht, und wenn sie die Wahl gehabt hätte, würde sie deren Hand nicht genommen haben.

Aber obwohl die Königin ruhig sprach, waren ihre Bewegungen so blitzschnell wie ein Gedanke. Bevor Polly wußte, wie ihr geschah, wurde ihre linke Hand von einer so viel größeren und kräftigeren Hand gepackt, daß sie sich nicht dagegen wehren konnte.

Eine schreckliche Frau ist das, dachte Polly: Sie ist so stark, daß sie mir mit einem Ruck den Arm brechen könnte. Und jetzt, wo sie meine linke Hand hält, komme ich nicht mehr an meinen gelben Ring. Und wenn ich versuche, mit der rechten Hand in die linke Tasche zu greifen, dann will sie sicher sofort wissen, was ich da mache.

Was auch immer passieren mag – von den Ringen dürfen wir ihr nichts verraten. Hoffentlich hat Digory so viel Grips, daß er den Mund hält. Wenn ich doch nur ein paar Worte mit ihm reden könnte, ganz allein!

Die Königin führte die beiden aus der Halle mit den Standbildern hinaus in einen langen Gang und dann durch ein Gewirr von weiteren Räumen, Treppenschluchten und Höfen. Immer wieder und wieder war zu hören, wie weitere Mauern des riesigen Palasts einstürzten manchmal ganz in der Nähe. Einmal brach donnernd ein riesiger Torbogen hinter ihnen zusammen, Sekunden nachdem sie darunter durchgegangen waren. Die Königin ging sehr schnell, und die Kinder mußten laufen, um mit ihr Schritt zu halten. Doch sie zeigte keinerlei Furcht.

Digory dachte: Wie mutig sie ist! Und wie stark! Eine richtige Königin! Ich hoffe, sie erzählt uns, was es mit diesem Platz hier auf sich hat.

Ein paar Dinge erzählte sie den Kindern unterwegs tatsächlich. »Diese Tür führt zu den Kerkern«, sagte sie etwa, »und die da drüben zu den Folterkammern.« Oder: Das war die Festhalle, in die mein Vater siebenhundert Edle zu einem Feste lud und alle tötete, noch bevor sie sich sattgetrunken hatten. Sie hegten aufrührerische Gedanken.«

Schließlich kamen sie zu einer Halle, die größer und höher war als alle, die sie bisher gesehen hatten. An der Größe und an den riesigen Toren am anderen Ende meinte Digory ablesen zu können, daß sie endlich am Haupteingang angekommen waren. Und da hatte er ganz recht. Die Tore waren rabenschwarz, und sie mußten aus Ebenholz bestehen oder aus einem schwarzen Metall, das es in unserer Welt nicht gibt. Sie waren mit riesigen Querbalken verschlossen, von denen die meisten so hoch saßen, daß man sie nicht erreichen konnte. Und alle waren sie zu schwer zum Anheben. Wie sollten sie da wohl hin auskommen, fragte sich Digory.

Die Königin ließ seine Hand los und hob den Arm.

Hochaufgerichtet und starr stand sie da. Sie sagte etwas, das die beiden nicht verstehen konnten, doch es hörte sich ganz gräßlich an. Und dann machte sie eine Bewegung, als wolle sie etwas gegen das Tor schleudern. Einen Augenblick lang erbebten die hohen und schweren Türen, als bestünden sie aus Seide.

Dann sanken sie in sich zusammen, bis nur noch ein Häufchen Asche übrigblieb.

Digory stieß vor Bewunderung einen Pfiff aus.

»Hat dieser Meister der Magie, dein Onkel, auch solche Macht wie ich?« fragte die Königin und packte Digorys Hand mit festem Griff. »Doch das werde ich später erfahren. Mittlerweile solltet ihr nicht vergessen, was ihr gesehen habt. So gehe ich mit Dingen und mit Menschen um, die sich mir in den Weg stellen.«

Durch die offenen Tore fiel mehr Licht herein, als sie bisher in dieser Stadt gesehen hatten, und als die Königin sie über die Schwelle führte, überraschte es die Kinder nicht sonderlich, daß sie plötzlich im Freien standen. Ein kalter, aber irgendwie schaler Wind blies ihnen entgegen.

Von einer hohen Terrasse blickten sie hinab auf ein weites Land.

Tief unter ihnen, nahe am Horizont, hing eine riesige rote Sonne, weit größer als die unsere. Digory spürte sofort, daß sie älter sein mußte als die unsere, daß es eine Sonne war, die kurz vor dem Tod stand, die es müde ist, auf diese Welt herunterzublicken. Zur Linken der Sonne stand ein wenig höher am Himmel groß und strahlend ein einziger Stern. Abgesehen von diesem gespenstischen Paar war sonst nichts am dunklen Himmel zu sehen. Und auf der Erde erstreckte sich nach allen Seiten, so weit das Auge reichte, eine riesige Stadt, in der es kein einziges Lebewesen zu geben schien. Und all die Tempel, Türme, Paläste, die Pyramiden und Brücken warfen im Licht dieser verglühenden Sonne lange, schreckenerregende Schatten. Einst war ein großer Fluß durch die Stadt geflossen, doch das Wasser war längst vertrocknet, und nur ein staubgraues Flußbett war übriggeblieben.

»Betrachtet gut, was kein Auge jemals mehr betrachten wird«, sagte die Königin. »Das war Charn, die prächtige Stadt, die Stadt des Königs der Könige, das größte Wunder dieser Welt, vielleicht sogar aller Welten. Regiert dein Onkel auch eine so große Stadt, mein Junge?«

»Nein«, entgegnete Digory. Gerade wollte er erklären, daß sein Onkel Andrew überhaupt keine Stadt regierte, doch da fuhr die Königin auch schon fort: »Jetzt ist alles still hier. Doch ich habe zu Zeiten hier gestanden, als die Luft erfüllt war vom Lärm der Stadt; da stampften Füße, knarrten Räder, da klatschten Peitschen, stöhnten Sklaven, da klapperten Wagenräder, dröhnten die Zeremonien­trommeln in den Tempeln. Ich habe hier gestanden – doch das war nahe dem Ende –, als aus allen Straßen Kampfgeräusche hallten und der Fluß Charn rotes Wasser führte.« Sie machte eine kurze Pause und fuhr dann fort: »In einem einzigen Augenblick hat eine Frau alles ausgelöscht.«

»Wer war das?« fragte Digory mit schwacher Stimme, doch die Antwort kannte er eigentlich schon.

»Ich«, sagte die Königin. »Ich, Jadis, die letzte Königin, doch Königin über die ganze Welt.«

Die beiden Kinder standen da und schwiegen. Sie zitterten im kalten Wind.

»Es war die Schuld meiner Schwester«, erklärte die Königin. »Sie hat mich dazu getrieben. Möge der Fluch aller Mächte für immer und ewig auf ihr lasten! Ich war stets bereit, mich mit ihr zu versöhnen – ja sogar das Leben wollte ich ihr schenken, wenn sie mir nur den Thron abgetreten hätte. Aber das tat sie nicht. Ihr Stolz ist es, der die Zerstörung der ganzen Welt herbeigeführt hat. Selbst nach dem Beginn des Krieges bestand der feierliche Schwur, daß weder sie noch ich die Magie zu Hilfe nehmen wollten. Was sollte ich tun, als sie ihr Versprechen brach? Närrin! Als hätte sie nicht gewußt, daß meine Zauberkunst mächtiger war als die ihre! Sie wußte sogar, daß ich um das Geheimnis des Unaussprechlichen Wortes wußte. Dachte sie, ich würde es nicht benutzen? Feige war sie ja schon immer.«