»Wie lautete es?« fragte Digory.
»Das war das Geheimnis aller Geheimnisse«, erklärte Königin Jadis. »Den großen Königen unseres Bluts war schon seit ewigen Zeiten bekannt, daß es ein Wort gab, das – von den entsprechenden Zeremonien begleitet jede lebende Kreatur vernichtete, außer der, die es sprach. Doch die alten Könige waren schwach und kleinmütig und banden sich und alle, die nach ihnen kamen, mit mächtigen Schwüren an die Verpflichtung, nicht einmal danach zu trachten, das Wort zu erfahren. Mir wurde es an einem geheimen Ort offenbart, und für dieses Wissen mußte ich einen schrecklichen Preis bezahlen. Ich habe es erst benutzt, als meine Schwester mich dazu zwang. Ich habe gekämpft und gekämpft, um sie mit anderen Mitteln zu besiegen. Ich habe das Blut meiner Heere vergossen, als wäre es Wasser…«
»Ekelhaftes Geschöpf!« murmelte Polly.
»Die letzte große Schlacht wütete drei Tage lang in dieser Stadt. Drei Tage lang habe ich von dieser Stelle aus zugesehen. Ich habe meine Macht erst benutzt, als der letzte Soldat gefallen war und dieses verfluchte Weib, meine Schwester, an der Spitze ihrer Rebellen diese große Treppe bestieg, die von der Stadt heraufführt zur Terrasse. Ich wartete, bis sie so nah war, daß wir uns ins Gesicht sehen konnten. Sie funkelte mich mit ihren bösen Augen an und sagte: Sieg. – Ja, sagte ich, Sieg. Doch nicht deiner. Und dann sprach ich das Unaussprechliche Wort. Einen Augenblick später war ich das einzige Lebewesen unter der Sonne.«
»Und was geschah mit all den anderen Lebewesen?«
Digory war entsetzt.
»Mit welchen Lebewesen?« fragte die Königin.
»Mit den ganz normalen Leuten, die Ihnen nie was zuleide getan haben«, sagte Polly. »Mit all den Frauen und Kindern, mit den Tieren?«
»Versteht ihr denn nicht?« sagte die Königin, immer noch zu Digory gewandt. »Ich war doch die Königin. Sie gehörten alle mir. Sie waren doch zu keinem anderen Zweck da, als mir zu Willen zu sein.«
»Trotzdem, es muß schrecklich gewesen sein für sie«, sagte er.
»Ich hatte vergessen, daß du nur ein gewöhnlicher Junge bist. Wie solltest du auch etwas über staatspolitische Hintergründe wissen? Du mußt lernen, daß das, was für dich und Leute deines Schlags verboten ist, durchaus erlaubt sein kann für eine mächtige Königin wie mich. Auf unseren Schultern ruht die Last der Welt. Wir sind von allen Gesetzen entbunden. Unser Los ist bedeutungsschwer und voller Einsamkeit.«
Digory fiel plötzlich ein, daß Onkel Andrew genau die gleichen Worte benutzt hatte. Aber jetzt, wo Königin Jadis sie aussprach, klangen sie viel erhabener. Vielleicht lag das daran, daß Onkel Andrew viel kleiner und auch nicht strahlend schön war, so wie sie.
»Und was haben Sie dann gemacht?« fragte Digory.
»Die Halle, in der die Abbilder meiner Ahnen sitzen, hatte ich schon mit einem mächtigen Zauber belegt. Und dieser Zauber besagte, daß ich bei ihnen schlafen mußte wie ein Abbild, ohne Nahrung oder Wärme zu benötigen, möge es auch tausend Jahre währen, bis jemand kommt, der mich mit dem Klang der Glocke erweckt.«
»Ist das Unaussprechliche Wort schuld, daß die Sonne so komisch aussieht?« erkundigte sich Digory.
»Inwiefern sieht sie denn komisch aus?« fragte Jadis.
»Sie ist so groß, so rot und so kalt.«
»So war sie schon immer«, entgegnete Jadis. »Zumindest seit Hunderttausenden von Jahren. Habt ihr eine andere Sonne in eurer Welt?«
»Ja. Sie ist kleiner und gelber. Und sie gibt viel mehr Hitze ab.«
Die Königin stieß ein langgezogenes »A-a-ah!« aus.
Auf ihrem Gesicht entdeckte Digory denselben hungrigen, gierigen Ausdruck wie erst vor kurzer Zeit auf dem seines Onkels. »So«, sagte sie. »Eure Welt ist also jünger.«
Sie schwieg einen Augenblick und betrachtete noch einmal die verlassene Stadt. Sofern es ihr leid tat, daß sie so viel Böses hier angerichtet hatte, ließ sie sich zumindest nichts anmerken. Dann sagte sie: »So, wir wollen gehen. Es ist kalt hier, jetzt, am Ende aller Zeiten.«
»Wohin gehen wir?« fragten Digory und Polly gemeinsam.
»Wohin?« wiederholte Jadis überrascht. »In eure Welt natürlich.«
Polly und Digory sahen einander entsetzt an. Polly hatte die Königin gleich von Anfang an nicht leiden mögen, und jetzt, nachdem Digory die ganze Geschichte wußte, hatte auch er die Nase voll von ihr. Jadis gehörte ganz gewiß nicht zu den Leuten, die man gern nach Hause mitnimmt. Und selbst wenn, so hätten sie gar nicht gewußt, wie sie das bewerkstelligen sollten. Vor allem wollten sie selbst von hier verschwinden: Allerdings kam Polly nicht an ihren Ring, und allein konnte sich Digory natürlich auch nicht verdrücken.
Digory wurde ganz rot im Gesicht und stammelte: »Oh – oh – unsere Welt. Ich – ich wußte nicht, daß Sie da hinwollen.«
»Wieso sollte euch einer hierherschicken, wenn nicht aus dem Grund, um mich zu holen?« fragte Jadis.
»Ich bin sicher, daß Ihnen unsere Welt gar nicht gefiele«, sagte Digory. »Es ist nicht der richtige Platz für Sie, was meinst du, Polly? Unsere Welt ist ausgesprochen langweilig und eigentlich überhaupt nicht sehenswert.«
»Sie wird bald sehenswert werden, wenn ich sie regiere«, erwiderte die Königin.
»Oh, das geht nicht«, protestierte Digory. »Bei uns ist alles ganz anders! Das würde man Ihnen nicht gestatten.«
Die Königin lächelte höhnisch. »Viele mächtige Könige dachten, sie könnten sich gegen das Königshaus von Charn stellen. Aber alle fielen, und selbst ihre Namen sind in Vergessenheit geraten. Törichter Knabe! Glaubst du nicht, daß mir – mit meiner Schönheit und meiner Zauberei – eure ganze Welt zu Füßen liegen wird, noch bevor ein Jahr verstrichen ist? Sagt eure Zaubersprüche auf und bringt mich hin! Sofort!«
»Das ist ja entsetzlich!« stöhnte Digory.
»Vielleicht sorgt ihr euch ja um euren Onkel«, sagte Jadis. »Doch wenn er mir die gebührende Ehre zollt, dann soll er sein Leben und seinen Thron behalten. Ihn will ich nicht bekämpfen. Er muß ein großer Zauberer sein, wenn er einen Weg gefunden hat, euch hierherzuschicken. Ist er König über eure ganze Welt, oder regiert er nur einen Teil davon?«
»Er ist überhaupt kein König«, erklärte Digory.
»Du lügst«, sagte die Königin. »Ist die Magie nicht immer an königliches Blut gebunden? Wer hätte jemals von einem gewöhnlichen Menschen gehört, der Zauberer ist? Ich kenne die Wahrheit, ob du sie nun zugibst oder nicht. Dein Onkel ist der mächtige König und der mächtige Zauberer eurer Welt. Durch seine Kunst hat er den Schatten meines Gesichts gesehen, sei es in einem Zauberspiegel, sei es in einem Zauberteich, und aus Liebe zu meiner Schönheit hat er einen wirksamen Zauberspruch gefunden, der eure Welt bis in die Grundfesten erschütterte. Und dann hat er euch über den weiten Strom zwischen den Welten gesandt, um meine Gunst zu erbitten und mich zu ihm zu bringen. Antwortet mir: Ist es nicht so gewesen?«
»Na ja, nicht ganz«, sagte Digory.
Nicht ganz?« schrie Polly. »Also das ist absoluter Quatsch, von vorn bis hinten!«
Elende! Du wagst es?« schrie die Königin. Sie drehte sich voller Wut zu Polly um und packte sie an den Haaren – und zwar ganz oben auf dem Kopf, dort, wo es am meisten weh tut. Doch dabei ließ sie die Hände der Kinder los. »Jetzt!« rief Digory.