»Gib Ruhe«, befahl die Hexe. »Ich sehe, was du bist. Du bist ein kleiner, unbedeutender Zauberer, der sich nach Regeln und nach Büchern richtet. Die wahre Magie fließt nicht in deinem Blut, noch trägst du sie im Herzen. Die Leute deines Schlags wurden in meiner Welt schon vor tausend Jahren beseitigt. Doch hier werde ich dir gestatten, mein Diener zu sein.«
»Ich wäre überglücklich – entzückt wäre ich, Ihnen zu Diensten zu sein – es ist – eh – es ist mir ein Vergnügen, das versichere ich Ihnen.«
Gib Ruhe! Du redest viel zuviel. Hör zu! Ich werde dir meinen ersten Auftrag erteilen. Ich sehe, daß wir uns in einer großen Stadt befinden. Du beschaffst mir jetzt sofort eine Kutsche oder einen fliegenden Teppich oder einen wohldressierten Drachen oder was in deinem Land auch immer schicklich sein mag für Leute von königlichem und edlem Stand. Und dann bringst du mich dorthin, wo ich meiner Stellung angemessene Kleider und Juwelen und Sklaven bekomme. Morgen werde ich damit beginnen, diese Welt zu erobern.«
»Ich – ich – ich gehe sofort und besorge eine Droschke«, keuchte Onkel Andrew.
»Halt!« sagte die Hexe, gerade als er an der Tür angelangt war. »Laß es dir nicht einfallen, Verrat an mir zu üben. Meine Augen sehen durch jede Mauer und in jedes menschliche Gehirn. Sie werden auf dir ruhen, wo immer du stehst und gehst. Beim ersten Anzeichen von Ungehorsam werde ich dir einen Zauber auferlegen, so daß sich jeder Gegenstand, auf den du dich setzt, wie glühender Stahl anfühlen wird, und wenn du dich ins Bett legst, werden deine Füße unsichtbare Eisklumpen berühren. Und jetzt geh!«
Der alte Mann ging hinaus. Er sah aus wie ein Hund, der den Schwanz zwischen die Beine klemmt.
Die Kinder hatten Angst, Jadis wolle sie dafür, was sich kurz zuvor im Wald zugetragen hatte, zur Rechenschaft ziehen. Das tat sie jedoch nicht – weder jetzt noch später.
Vermutlich war ihr Geist so geartet, daß sie den stillen Ort ganz vergessen hatte. Und wie oft man sie auch hinbringen mochte und wie lange sie dort verweilte, so würde sie doch diesen Ort niemals im Sinn behalten. Die beiden beachtete sie nicht, jetzt, wo sie mit ihnen allein war. Das sah ihr ganz ähnlich. In Charn hatte sie Polly bis ganz zum Schluß keinerlei Beachtung geschenkt, weil es Digory war, den sie benutzen wollte. Jetzt, wo sie Onkel Andrew hatte, war Digory völlig vergessen. So ist es vermutlich bei den meisten Hexen. Sie interessieren sich nur für Dinge oder Menschen, die ihnen etwas einbringen. Sie sind sehr praktisch veranlagt. Ein paar Minuten lang herrschte also Stille im Raum. Doch daran, wie Jadis mit der Fußspitze auf den Boden klopfte, konnte man ablesen, daß sie langsam ungeduldig wurde.
Nach einem Weilchen sagte sie mehr zu sich selbst als zu den Kindern: »Was treibt der alte Narr denn bloß? Ich hätte eine Peitsche mitbringen sollen.« Ohne den Kindern einen Blick zu schenken, verließ sie das Zimmer und folgte ihm nach.
»Puh!« seufzte Polly erleichtert. »Und jetzt muß ich heim. Es ist schon schrecklich spät. Bestimmt bekomme ich Schelte.«
»Aber du mußt wiederkommen, so schnell du nur kannst!« befahl Digory. »Es ist absolut grauenhaft, daß diese Hexe mit hierhergekommen ist. Wir müssen einen Plan machen.«
»Darum muß sich jetzt dein Onkel Andrew kümmern«, sagte Polly. »Er hat mit dieser ganzen Zauberei angefangen.«
»Aber trotzdem mußt du wiederkommen, hörst du? Verdammt, du kannst mich doch nicht in so einem Schlamassel allein sitzenlassen!«
»Ich gehe durch den Tunnel nach Hause«, erwiderte Polly ziemlich kühl. »Das ist am schnellsten. Meinst du nicht, du müßtest dich erst mal entschuldigen, wenn du willst, daß ich wiederkomme?«
»Entschuldigen?« rief Digory. »Also das ist wieder ganz typisch Mädchen! Was hab’ ich denn getan?«
»Oh, gar nichts natürlich«, entgegnete Polly höhnisch.
»Nur das Handgelenk hast du mir fast abgerissen, in der Halle mit den Wachsfiguren, wie ein Feigling, der meint, er muß seine Kraft beweisen. Und die Glocke hast du geläutet, wie ein kompletter Vollidiot. Und im Wald hast du gezögert, damit die Hexe dich packen konnte, bevor wir in den Teich hüpften. Sonst gar nichts.«
»Oh«, meinte Digory äußerst überrascht. »Na gut, ich entschuldige mich hiermit. Und es tut mir wirklich leid, was in der Halle mit den Wachsfiguren passiert ist. So, jetzt habe ich mich also entschuldigt. Und nun sei so gut und komm wieder. Wenn du mich im Stich läßt, dann sitze ich ganz schön in der Tinte.«
»Ich weiß gar nicht, was dir passieren soll. Es ist doch dein Onkel, der auf glühend heißen Stühlen sitzt und Eisklumpen im Bett hat, oder nicht?«
»Das ist es nicht«, sagte Digory. »Ich mache mir Sorgen um meine Mutter. Nimm mal an, dieses Weib geht zu ihr ins Zimmer! Sie jagt meiner Mutter vielleicht einen solchen Schreck ein, daß sie stirbt.«
»Oh, jetzt verstehe ich, was du meinst«, sagte Polly.
Ihre Stimme klang plötzlich ganz anders. »Na gut. Dann wollen wir uns wieder vertragen. Ich komme also wieder – wenn ich kann. Aber jetzt muß ich gehen.« Sie kroch durch die kleine Tür hinaus in den Tunnel. Jetzt kam ihr der dunkle Gang, der ihnen doch vor ein paar Stunden so aufregend und abenteuerlich erschienen war, völlig ungefährlich und fast gemütlich vor.
Nun müssen wir uns wieder Onkel Andrew zuwenden.
Sein armes altes Herz schlug rasend schnell, während er die Treppe hinunterstolperte. Unterwegs tupfte er sich ständig mit dem Taschentuch die Stirn. Als er ein Stockwerk tiefer in seinem Schlafzimmer angelangt war, schloß er die Tür hinter sich zu und stöberte als allererstes in seinem Schrank herum, um eine Flasche und ein Weinglas hervorzuholen, die er immer hier versteckt hielt, damit Tante Letty sie nicht fand. Er füllte das Glas mit so einem ekelhaften Zeug, wie es die Erwachsenen trinken, und stürzte es in einem einzigen Zug hinunter. Dann atmete er tief ein.
Ach, du lieber Gott, sagte er zu sich. Ich bin völlig durcheinander. Ganz außer mir bin ich! Und das in meinem Alter!
Er schenkte sich ein zweites Glas ein, trank es aus, und dann begann er sich umzuziehen. Solche Kleider, wie er sie jetzt anzog, habt ihr noch nie gesehen, aber ich kann mich gerade noch daran erinnern. Er legte sich einen überaus hohen, glänzenden, steifen Kragen um, der so geartet war, daß man ständig das Kinn hochrecken mußte. Dann zog er noch eine weiße Weste an, mit einem Muster darauf, und legte seine goldene Uhrenkette über zurecht. Er schlüpfte in sein bestes langschößiges Jackett, das er sonst nur zu Hochzeit en und zu Beerdigungen trug. Als nächstes holte er seinen höchsten Zylinder und bürstete ihn sorgsam. Auf seine Kommode hatte Tante Letty eine Vase mit Blumen gestellt. Davon nahm er sich eine und steckte sie in sein Knopfloch. Aus der linken Kommodenschublade holte er sich ein sauberes, ganz wunderschönes Taschentuch, wie man es heutzutage gar nicht mehr kaufen kann, und spritzte ein paar Tropfen Duftwasser darauf. Dann klemmte er sich das Monokel mit dem dicken schwarzen Band ins Auge und betrachtete sich im Spiegel.
Genau wie die Kinder haben auch die Erwachsenen eine ganz bestimmte Art und Weise, sich völlig albern aufzuführen. Und so erging es in diesem Augenblick Onkel Andrew. Jetzt, wo er die Hexe in einem anderen Zimmer zurückgelassen hatte, vergaß er ganz und gar, welche Angst sie ihm eingejagt hatte. Er mußte nur noch an ihre große Schönheit denken. Er sagte sich immer wieder: Ein verdammt schönes Weib, mein Lieber, ein verdammt schönes Weib! Ein herrliches Geschöpf! Er hatte auch völlig vergessen, daß es ja die Kinder gewesen waren, die dieses herrliche Geschöpf angebracht hatten. Inzwischen war er der Meinung, er selbst habe sie mit seiner Zauberei aus einer fernen Welt herbeigerufen.
Andrew, mein Junge, sagte er sich, während er sich im Spiegel betrachtete, ein ausgesprochen guterhaltener Knabe bist du für dein Alter. Ein vornehmer Herr, ja wirklich.