Der törichte alte Mann bildete sich nämlich ein, die Hexe könne sich in ihn verlieben. Daran war vermutlich das Zeug schuld, das er eben getrunken hatte, und seine guten Kleider. Außerdem war er so eitel wie ein Pfau deshalb war er auch Zauberer geworden.
Er schloß die Tür auf, ging nach unten, schickte das Dienstmädchen los, damit sie eine Droschke besorgte (in jenen Tagen hatten alle Leute noch eine Menge Dienstboten), und ging in den Salon. Dort fand er, wie erwartet, Tante Letty. Sie kniete vor dem Fenster und reparierte eine Matratze, die vor ihr auf dem Boden lag.
»Ah, Letitia, meine Liebe«, sagte Onkel Andrew. »Ich äh – ich muß weg. Sei so lieb, mein Mädchen, und leih mir fünf Pfund oder so.«
»Nein, Andrew, mein Lieber«, sagte Tante Letty mit ruhiger und fester Stimme, ohne von ihrer Arbeit aufzusehen. »Ich hab’ dir doch schon hundertmal gesagt, daß ich dir kein Geld borge.«
»Sei doch nicht so störrisch, mein liebes Mädchen«, meinte Onkel Andrew. »Es ist äußerst wichtig. Du bringst mich in eine sehr unangenehme Lage, wenn du mir kein Geld gibst.«
»Andrew«, sagte Tante Letty, und dabei schaute sie ihm voll ins Gesicht. »Mich wundert, daß du dich nicht schämst, mich um Geld zu bitten.«
Hinter diesen Worten lag eine lange, äußerst langweilige Geschichte, so wie sie sich manchmal unter Erwachsenen zuträgt. Für euch ist daran nur interessant, daß Onkel Andrew dafür verantwortlich war, daß Tante Letty inzwischen um einiges ärmer dastand als dreißig Jahre zuvor. Er hatte sich nämlich verpflichtet gefühlt, sich um ihre Geldangelegenheiten zu kümmern. Gearbeitet hatte er auch nie, und er hatte riesige Rechnungen für Brandy und Zigarren zusammenkommen lassen, die Tante Letty immer wieder bezahlen mußte.
»Mein liebes Mädchen«, sagte Onkel Andrew. »Du verstehst nicht. Ich werde heute einige völlig unerwartete Ausgaben tätigen müssen. Ich muß einen Gast bewirten. Na, komm schon, sei doch nicht so störrisch!«
»Und wen mußt du bewirten, Andrew, wenn ich fragen darf?« erkundigte sich Tante Letty.
»Eine – eine hochstehende Persönlichkeit ist eben eingetroffen.«
»Eine hochstehende Persönlichkeit? Unsinn!« sagte Tante Letty. »In der letzten Stunde hat es kein einziges Mal an der Haustür geklingelt.« In diesem Augenblick wurde plötzlich die Tür aufgerissen. Tante Letty drehte sich um und sah zu ihrer Überraschung, daß eine riesige, prächtig gekleidete Frau mit nackten Armen und blitzenden Augen in der Tür stand. Es war die Hexe.
WAS AN DER HAUSTÜR GESCHAH
»Nun, Sklave, wie lange soll ich noch auf meine Kutsche warten?« donnerte die Hexe.
Onkel Andrew zog den Kopf ein und wich zurück.
Jetzt, wo sich die Hexe im selben Zimmer mit ihm befand, verschwanden all die törichten Gedanken, die ihm eben noch durch den Kopf gegangen waren, während er sich im Spiegel betrachtet hatte. Tante Letty hingegen stand sofort auf und trat in die Mitte des Zimmers.
»Wer ist diese junge Frau, Andrew, wenn ich fragen darf?« erkundigte sie sich mit eisigem Tonfall.
»Eine hochstehende Person aus dem Ausland – eine Prominente«, stammelte er.
»So ein Quatsch!« erwiderte Tante Letty, und dann befahl sie, zur Hexe gewandt: »Und Sie verlassen sofort mein Haus, Sie schamlose Dirne. Sonst hole ich die Polizei.« Sie dachte, Jadis müsse aus einem Zirkus stammen.
Außerdem fand sie nackte Arme absolut unschicklich.
»Wer ist diese Frau?« fragte Jadis. »Knie dich nieder vor mir, Elende, bevor ich dich dazu verdamme, zu Staub zu zerfallen!«
»In meinem Haus wird nicht geflucht, junge Frau!« sagte Tante Letty scharf.
Im selben Augenblick wurde die Königin noch größer.
Zumindest kam es Onkel Andrew so vor. Aus ihren Augen sprühten Blitze, sie streckte den Arm aus und rief die schrecklich klingenden Worte, genau wie vor kurzem, als sie die Palasttore von Charn zu Staub hatte zerfallen lassen. Doch diesmal geschah überhaupt nichts.
Tante Letty, die meinte, es müsse normales Englisch sein, was die Hexe da von sich gab, sagte: »Das habe ich mir gedacht. Sie ist betrunken. Betrunken! Sie kann nicht mal so reden, daß man sie versteht.«
Das muß ein gräßlicher Moment gewesen sein für die Hexe, als sie plötzlich merkte, daß ihre Zauberkraft, Menschen zu Staub zerfallen zu lassen, hier in unserer Welt nicht funktionierte. Aber sie ließ sich keine einzige Sekunde lang aus der Fassung bringen. Statt dessen stürzte sie sich auf Tante Letty, hob sie hoch in die Luft, als wäre sie so leicht wie eine Puppe, und warf sie quer durchs Zimmer. Genau in diesem Augenblick steckte das Dienstmädchen, das diesen herrlich aufregenden Vormittag zu genießen begann, den Kopf durch die Tür und sagte: »Die Droschke ist da, Sir.«
»Geh voraus, Sklave!« befahl die Hexe. Onkel Andrew brummte etwas von bedauerlichen Tätlichkeiten, gegen die er wirklich protestieren müsse, doch ein einziger Blick von Jadis brachte ihn zum Verstummen. Sie trieb ihn aus dem Zimmer und zum Haus hinaus. Digory kam gerade noch rechtzeitig die Treppe heruntergerannt, um zu sehen, wie die Tür hinter den beiden zufiel.
»Herrjemine!« sagte er. »Jetzt hat man sie auf London losgelassen. Und Onkel Andrew ist ebenfalls mit von der Partie. Ich wüßte nur zu gern, was jetzt passiert!«
»Oh, Master Digory«, rief das Dienstmädchen. »Ich glaube, Miß Ketterley ist verletzt.« Also rannten sie alle beide in den Salon, um nachzusehen, was sich da ereignet hatte.
Auf dem nackten Fußboden, ja sogar auf dem Teppich hätte sich Tante Letty sicherlich alle Knochen gebrochen.
Doch glücklicherweise war sie auf der Matratze gelandet.
Außerdem war sie eine außerordentlich zähe alte Dame, so wie viele der alten Damen damals in jenen Tagen.
Nachdem sie an einem Fläschchen Riechsalz geschnuppert und ein paar Minuten still dagesessen hatte, verkündete sie, abgesehen von ein paar Schrammen sei ihr nichts passiert. Und kurz darauf übernahm sie schon wieder das Kommando.
»Sarah!« sagte sie zu dem Dienstmädchen, das noch nie so einen interessanten Tag erlebt hatte, »du gehst jetzt sofort zum Polizeirevier und meldest, daß sich hier eine gemeingefährliche Verrückte herumtreibt. Das Mittagessen für Mrs. Kirke bringe ich selbst nach oben.« Mrs. Kirke war Digorys Mutter.
Als die Kranke versorgt war, aß Digory mit seiner Tante zusammen ebenfalls etwas. Und anschließend begann er angestrengt nachzudenken.
Das Wichtigste war, die Hexe so schnell wie möglich in ihre eigene Welt zurückzubeordern – oder sie zumindest wegzuschaffen aus dieser Welt. Auf gar keinen Fall durfte sie sich hier im Haus herumtreiben. Seine Mutter durfte nicht mit ihr in Berührung kommen. Und nach Möglichkeit mußte Jadis auch daran gehindert werden, in London ihr Unwesen zu treiben. Digory war nicht dabeigewesen, als sie versucht hatte, Tante Letty zu Staub zerfallen zu lassen, aber er hatte gesehen, wie sie das mit den Toren von Charn zuwege gebracht hatte. Er wußte also von ihrer schrecklichen Macht, und er hatte keine Ahnung, daß sie einen Teil davon beim Betreten unserer Welt eingebüßt hatte. Außerdem wußte er, daß sie vorhatte, unsere Welt zu erobern. Vielleicht war sie gerade eben damit beschäftigt, den Buckingham-Palast oder das Parlament zu Staub zerfallen zu lassen. Und mit großer Wahrscheinlichkeit war auch von zahlreichen Polizisten nur noch ein Häufchen Staub übrig. Digory hatte keine Ahnung, was er dagegen unternehmen sollte. Die Ringe funktionieren ja wie Magnete, dachte er dann. Wenn ich die Hexe berühre und meinen gelben Ring überstreife, dann bringt er uns in den Wald zwischen den Welten. Ob sie dort wohl wieder so einen Schwächeanfall kriegt? Hatte der Ort selbst so einen Einfluß auf sie? Oder war es vielleicht nur der Schock, aus ihrer eigenen Welt fortgezogen zu werden? Aber dieses Risiko muß ich wohl eingehen. Bloß wie finde ich dieses Weib? Tante Letty läßt mich vermutlich nicht weg, außer ich sage ihr, wo ich hinwill. Zudem habe ich kaum Geld. Und wenn ich ganz London absuchen muß, dann brauche ich sicher eine ganze Menge für Busse und Straßenbahnen. Ich habe sowieso nicht die geringste Ahnung, wo ich überhaupt suchen soll. Ob sie wohl noch mit Onkel Andrew unterwegs ist?