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Schließlich und endlich wurde ihm klar, daß er eigentlich nur warten und hoffen konnte, daß Onkel Andrew und die Hexe wieder hierherkamen. Und sobald sie auftauchten, wollte er hinausrennen, Jadis packen und den gelben Ring anstecken, noch bevor sie Gelegenheit hatte, das Haus zu betreten. Das bedeutete, daß er die Haustür bewachen mußte wie die Katze das Mauseloch. Ununterbrochen. Also ging er ins Eßzimmer und rührte sich nicht mehr von der Stelle. Das Erkerfenster, durch das er hinausschaute, war so geformt, daß er die Eingangs­treppe und die ganze Straße hinauf und hinunter über­blicken konnte. Also konnte keiner ohne sein Wissen die Haustür öffnen. Was Polly wohl gerade treibt? dachte er.

Darüber mußte er lange nachdenken in dieser ersten halben Stunde, die kein Ende nehmen wollte. Ich werde es euch erzählen. Polly war zu spät zum Abendessen gekommen, mit klatschnassen Schuhen und Strümpfen.

Und als sie gefragt wurde, wo sie gewesen sei und was zum Teufel sie getrieben habe, da sagte sie, sie sei mit Digory Kirke unterwegs gewesen. Nach weiterem Befragen gab sie zu, die nassen Füße habe sie sich in einem Teich geholt, und der Teich läge in einem Wald. Wo dieser Wald sei, wisse sie nicht. Auf die Frage, ob er in einem der Parks läge, antwortete sie mehr oder weniger wahrheitsgemäß, man könne den Wald als Park bezeichnen, wenn man wolle. Aus all dem schloß Pollys Mutter, ihre Tochter müsse sich in irgendeinem ihr unbekannten Teil Londons in einem Park damit vergnügt haben, in Pfützen zu hüpfen. Also wurde Polly erklärt, sie habe sich schrecklich schlecht benommen, und wenn so etwas noch einmal vorkäme, dann dürfe sie nie mehr mit diesem Kirke spielen. Sie bekam keinen Nachtisch und mußte sich zur Strafe zwei volle Stunden lang ins Bett legen. So etwas passierte ziemlich häufig in jenen Tagen.

Während also Digory aus dem Eßzimmerfenster starrte, lag Polly im Bett. Allen beiden kam es so vor, als stünde die Zeit still. Also ich für meinen Teil, ich wäre lieber an Pollys Stelle gewesen. Sie mußte lediglich warten, bis die zwei Stunden vorüber waren, während Digory alle paar Minuten eine Droschke, einen Lieferwagen oder einen Metzgerjungen um die Ecke biegen hörte und dachte: Da kommt sie! Und nach jedem falschen Alarm schien sich die Zeit wieder endlos lang hinzuziehen, während eine riesige Fliege hoch oben gegen das Fenster schwirrte. Dies war nämlich eines von jenen Häusern, in denen es nachmittags immer schrecklich still und langweilig wird. Zudem roch es ständig nach Hammelfleisch.

Nur ein einziges Mal geschah etwas während dieser langen Warterei. Es war nur eine Kleinigkeit, die sich da zutrug, doch ich muß sie erwähnen, weil sich daraus später andere Dinge ergaben. Eine Frau kam Digorys Mutter besuchen, und sie brachte Trauben mit. Weil ja die Eßzimmertür offenstand, hörte Digory ganz unfreiwillig mit, wie sich seine Tante und die Frau im Flur unterhielten.

»Sind die herrlich!« ertönte Tante Lettys Stimme.

»Wenn es etwas gäbe, was ihr noch helfen könnte, dann wären es ganz gewiß diese Trauben. Ach, die gute, arme Mabel! Aber ich befürchte, man brauchte schon Früchte aus dem Land der Jugend, um sie jetzt noch gesund zu machen. In dieser Welt gibt es vermutlich nichts, womit man noch viel tun kann für sie.« Dann redeten die beiden leise weiter, aber Digory verstand sie nicht mehr.

Hätte Digory das mit dem Land der Jugend vor ein paar Tagen gehört, dann hätte er angenommen, Tante Letty habe das nur so dahingesagt, so wie das bei den Erwachsenen üblich ist. Es fehlte nicht viel, und er hätte es auch jetzt für Erwachsenengeschwätz gehalten. Doch da fiel ihm plötzlich ein, daß er – ganz im Gegensatz zu Tante Letty – inzwischen wußte, daß es wirklich andere Welten gab. Er war ja selbst in einer gewesen. Vielleicht gab es wirklich irgendwo ein Land der Jugend und noch alles Mögliche mehr. Vielleicht gab es in einer anderen Welt tatsächlich Früchte, von denen seine Mutter wieder gesund wurde. Wer weiß. Na ja, ihr wißt ja, wie das ist, wenn man sich etwas ganz schrecklich verzweifelt wünscht, und dann schöpft man plötzlich Hoffnung. Erst möchte man sich gegen die Hoffnung wehren, weil es zu schön wäre, um wahr zu sein. Zu oft hat man schon Enttäuschungen erlebt. So erging es jetzt Digory. Doch dann gab er seinen Widerstand auf, denn vielleicht… vielleicht gab es so was wirklich. So viele eigenartige Dinge waren passiert an diesem Tag. Und er hatte ja die Zauberringe. Sicher konnte man durch jeden einzelnen Teich im Wald zu einer anderen Welt gelangen. Und all diese Welten konnte er sich ja mal anschauen. Und dann – vielleicht wurde dann seine Mutter wieder gesund, und alles wurde wieder so wie früher. Digory vergaß ganz und gar, daß er nach der Hexe Ausschau halten wollte. Gerade wollte er die Hand in die Tasche stecken und den gelben Ring anstecken, als er plötzlich Hufgetrappel hörte.

Ach herrje! Was ist denn das? überlegte Digory. Das muß der Feuerwehrwagen sein. Wo mag es wohl brennen? Herr im Himmel – er kommt in diese Richtung. Ach Gott, da ist sie ja!

Ich brauche euch ja wohl nicht zu erklären, wen er damit meinte.

Zuerst kam die Droschke. Der Kutschersitz war leer, doch aufrecht und mühelos das Gleichgewicht haltend, während das Gefährt mit Höchstgeschwindigkeit auf einem Rad um die Ecke jagte, stand auf dem Dach die Hexe, Jadis, Königin aller Königinnen, die Charn ins Verderben gestürzt hatte. Ihre Zähne blitzten, ihre Augen leuchteten wie Flammen, und ihr langes Haar flatterte hinter ihr wie ein Kometenschweif. Erbarmungslos peitschte sie auf das Pferd ein. Es hatte die geröteten Nüstern weit aufgerissen, und seine Flanken waren schaumbefleckt. In wilder Jagd galoppierte es zur Haustür, verfehlte um ein Haar den Laternenpfahl und bäumte sich dann hoch auf. Die Droschke schmetterte gegen die Laterne und zerbarst in tausend Stücke. Doch mit einem prachtvollen Sprung war die Hexe gerade im richtigen Augenblick vom Dach der Droschke auf den Rücken des Pferdes gesprungen. Dort setzte sie sich zurecht, beugte sich nach vorn und flüsterte dem Pferd etwas ins Ohr. Die Worte, die sie flüsterte, schienen nicht dazu bestimmt, das Pferd zu beruhigen. Ganz im Gegenteil. Sofort bäumte es sich wieder auf, und sein Wiehern klang wie ein Schrei. Es schien nur noch aus Hufen, aus Zähnen, aus Augen und aus einer wirbelnden Mähne zu bestehen. Nur ein erstklassiger Reiter konnte sich auf seinem Rücken halten.

Bevor sich Digory von seinem ersten Schreck erholt hatte, passierte noch vieles mehr. Eine zweite Droschke kam angejagt, aus der ein dicker Mann im Frack und ein Polizist kletterten. Dann folgte eine dritte Droschke mit zwei weiteren Polizisten, und johlend und schreiend sausten etwa zwanzig Leute (meist Laufburschen) auf Fahrrädern daher, gefolgt von einer Schar von Fußgängern, alle mit hochroten Köpfen, weil sie so hatten rennen müssen. Aber offensichtlich machte ihnen die Sache großen Spaß. In der ganzen Straße gingen die Fenster auf, an allen Haustüren erschienen Dienstmädchen oder Butler, und alle wollten wissen, was es da zu sehen gab.

Inzwischen rappelte sich ein alter Herr aus den Trümmern der ersten Droschke. Ein paar Leute eilten herbei und wollten ihm behilflich sein, aber da ihn der erste in die eine und der zweite in die andere Richtung zerrte, hätte er es ohne Hilfe vermutlich genauso schnell geschafft. Digory nahm an, daß es sich bei dem alten Herrn um seinen Onkel handelte, doch da dem Mann der hohe Zylinder übers Gesicht heruntergerutscht war, konnte man sein Gesicht nicht sehen.

Digory rannte nach draußen.

»Das ist sie! Das ist sie!« rief der dicke Mann und deutete auf Jadis. »Tun Sie Ihre Pflicht, Konstabler! Sie hat mir Waren im Wert von Hunderten, nein Tausenden von Pfund aus meinem Geschäft entwendet! Sehen Sie sich diese Perlenkette an, die sie um den Hals trägt! Die gehört mir! Und ein blaues Auge hat sie mir auch noch geschlagen!«