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Gott sei Dank! Die wütenden, verschreckten Gesichter waren verschwunden, und die aufgebrachten Stimmen verklangen. Nur die von Onkel Andrew war noch zu hören. Gleich neben Digory jammerte er im Dunklen: »Oh! Oh! Bin ich des Wahnsinns? Ist dies das Ende? Ich ertrage es nicht! Das ist ungerecht! Eigentlich wollte ich gar kein Zauberer werden! Das ist ein Mißverständnis! Meine Patin ist schuld! Dagegen muß ich protestieren! Bei meinem gesundheitlichen Zustand! Und bei meiner guten Herkunft!«

Verdammt! dachte Digory. Den wollte ich eigentlich nicht dabeihaben. Ach herrje, so ein Mist! »Bist du da, Polly?« fragte er laut.

»Ja, hier bin ich. Hör auf, mich ständig zu schubsen!«

»Ich schubse dich doch gar nicht!« begann Digory, aber bevor er weiterreden konnte, tauchten sie im grünen Sonnenschein des Waldes auf. Als sie ans Teichufer krabbelten, rief Polly: »Ach du meine Güte! Das Pferd haben wir auch mitgebracht! Und Mr. Ketterley! Und den Kutscher! Das kann ja heiter werden!«

Als die Hexe sah, daß sie wieder im Wald gelandet war, wurde sie blaß und beugte sich, bis ihr Gesicht die Pferdemähne berührte. Man konnte sehen, daß ihr sterbenselend war. Onkel Andrew zitterte. Doch Goldapfel, das Pferd, schüttelte die Mähne und wieherte. Ihm schien es besser zu gehen. Jetzt wurde er wieder ganz ruhig. Seine Ohren richteten sich auf, und aus seinen Augen verschwand die Wildheit.

»So ist’s recht, alter Junge«, sagte der Kutscher und tätschelte Goldapfel am Hals. »So ist’s besser. Sei schön brav.«

Nun schickte sich Goldapfel an, das Allernatürlichste der Welt zu tun. Er war schrecklich durstig, und das war ja auch kein Wunder. Langsam trottete er zum nächsten Teich, stapfte ins Wasser und wollte trinken. Digory hielt noch immer die Hexenferse fest, an der anderen Hand hielt er Polly. Auf dem Pferdehals lag die Hand des Kutschers, und Onkel Andrew, der weiterhin ganz zittrige Beine hatte, klammerte sich am Kutscher fest.

»Schnell!« rief Polly und sah zu Digory hinüber.

»Grün!«

Und so kam das Pferd überhaupt nicht dazu, seinen Durst zu löschen. Statt dessen versanken sie alle miteinander im Dunkeln. Goldapfel wieherte, Onkel Andrew wimmerte, und Digory sagte: »Da haben wir aber Schwein gehabt.«

Ein Weilchen war alles still. Dann sagte Polly: »Müßten wir nicht inzwischen am Ziel sein?«

»Also, irgendwo sind wir«, sagte Digory. »Zumindest stehe ich auf festem Grund und Boden.«

»Natürlich! Ich auch! Das merke ich erst jetzt«, meinte Polly. »Aber weshalb ist es bloß so dunkel hier? Meinst du, wir haben den falschen Teich erwischt?«

»Vielleicht ist es doch Charn, und es ist gerade Nacht hier«, sagte Digory.

»Das ist nicht Charn«, erklang die Stimme der Hexe.

»Das ist eine leere Welt. Wir sind im Nichts angelangt.«

Und so sah es auch wirklich aus. Es gab keine Sterne hier und es war so dunkel, daß man die Hand vor den Augen nicht sah. Es machte überhaupt keinen Unterschied, ob man die Augen öffnete oder nicht. Der Boden unter ihren Füßen fühlte sich eben an und kühl. Möglicherweise war es Erde, auf der sie da standen, doch Wiese konnte es keine sein, und Waldboden war es auch nicht.

Die Luft war kalt und reglos.

Dies ist mein Verderben!« verkündete die Hexe mit einer Stimme, in der eine schreckliche Ruhe lag.

»Oh! Sagen Sie das nicht!« plapperte Onkel Andrew.

»Meine werte junge Dame, so etwas dürfen Sie nicht sagen. So schlimm kann es doch nicht sein. Ah, Kutscher, mein guter Mann, Sie haben nicht zufällig ein Fläschchen dabei? Ein kleines Schlückchen wäre genau das Richtige für mich.«

»Wir müssen alle die Nerven behalten«, erklang die gutmütige, beherzte Stimme des Kutschers. »Ja, das müs sen wir. Hat sich auch keiner was gebrochen? Gut. Also dafür müssen wir schon mal mächtig dankbar sein, wo wir doch so tief runtergefallen sind. So, falls wir in ‘ne Grube gestürzt sind – vielleicht für ‘nen neuen Untergrundbahnhof –, dann werden sie gleich kommen und uns holen. Und wenn wir tot sind – wäre ja durchaus möglich –, dann dürft ihr nicht vergessen, daß auf See schlimmere Dinge passieren. Und irgendwann muß ja jeder mal sterben. Wenn man rechtschaffen gelebt hat, gibt’s da nichts zu befürchten. Und wenn ihr mich fragt, dann sollten wir uns mit ‘nem Liedchen die Zeit vertreiben.«

Gesagt, getan. Sofort stimmte er ein Erntedanklied an, in dem es um das glücklich vollbrachte Einbringen der Ernte ging. Das Lied paßte nicht so recht hierher, wo seit Anbeginn der Zeit noch nie etwas gewachsen zu sein schien, aber dieses Lied kannte er am besten. Er hatte eine schöne Stimme. Die Kinder sangen ebenfalls mit. Allen dreien verlieh das Lied neuen Mut. Nur Onkel Andrew und die Hexe schwiegen. Als sie fast fertig waren mit dem Lied, spürte Digory, wie ihn jemand am Ellenbogen zupfte. Nach dem Geruch zu schließen – es roch nach Cognac, nach Zigarren und nach Sonntagskleidern –, mußte es Onkel Andrew sein, der ihn da ganz sachte und vorsichtig beiseite zog. Einige Schritte entfernt von den anderen legte er seinen Mund so nah an Digorys Ohr, daß es kitzelte.

»Steck den Ring an, Junge! Wir verschwinden!« flüsterte er.

Doch die Hexe hatte ausgezeichnete Ohren. »Narr!« schrie sie und sprang vom Pferd. »Hast du vergessen, daß meine Ohren Gedanken hören? Laß den Jungen los! Wenn du Verrat an mir übst, dann werde ich Rache an dir nehmen, wie es noch nie gehört wurde seit Anbeginn der Zeit!«

»Wenn du meinst, daß ich von hier verschwinde, und Polly, den Kutscher und das Pferd an einem Ort wie diesem hier zurücklasse, dann hast du dich schwer getäuscht«, fügte Digory hinzu.

»Ein frecher, ungezogener Bengel bist du!« schimpfte Onkel Andrew.

»Pst!« machte der Kutscher. Alle lauschten.

Dort im Dunkel ging etwas vor sich. Eine Stimme hatte zu singen begonnen. Sie klang ganz aus der Ferne, und Digory fiel es schwer, die Richtung zu bestimmen, aus der sie kam. Manchmal schien sie von überall her zu erklingen; manchmal hörte es sich fast so an, als schalle sie direkt aus der Erde unter ihnen. Die tiefen Töne klangen so, als wäre es die Stimme der Erde selbst. Einen Text hatte das Lied nicht, auch keine richtige Melodie, aber es war dennoch das wunderschönste Lied, das Digory jemals gehört hatte. Es war so schön, daß er es kaum ertragen konnte. Dem Pferd schien es ebenfalls zu gefallen. Es wieherte wie ein Pferd, das nach jahrelangem Dasein als Droschkengaul plötzlich die alte Weide wiederfindet, auf der es als Fohlen gespielt hat, und das einen Menschen mit einem Stückchen Zucker in der Hand ankommen sieht, an den es sich noch mit Liebe erinnert.

»Heiliger Herr im Himmel!« rief der Kutscher. »Ist das nicht geradezu herrlich?«

Dann geschahen zwei Wunder auf einmal. Weitere Stimmen fielen in den Gesang mit ein, so viele, man hätte sie niemals zählen können. Ihr Gesang fügte sich harmonisch mit ein, doch sie sangen höher, mit kalten, klirrenden Silberstimmen. Und dann geschah das zweite Wunder: Die Schwärze über ihnen war auf einen Schlag von Sternen übersät. Sie erscheinen nicht nach und nach, so wie bei uns in einer Sommernacht. Im einen Augenblick war es noch pechrabenschwarz da oben, im nächsten flammten Abertausende von Lichtern – einzelne Sterne, Sternbilder, Planeten, und alle waren größer und heller als jene, die bei uns am Nachthimmel strahlen. Der Himmel war vollkommen wolkenlos. Die neuen Sterne und die neuen Stimmen waren gemeinsam erschienen. Wenn ihr dabeigewesen wärt, dann hättet ihr sicher genau wie Digory geglaubt, daß die Sterne da sangen und daß sie von der ersten tiefen Stimme ins Leben gerufen worden waren.

»Ich glaub’, ich werd’ verrückt«, stammelte der Kutscher. »Wenn ich gewußt hätt’, daß es so was gibt, wär’ ich ein viel besserer Mensch gewesen.«

Die Stimme, die von der Erde her erschallte, war jetzt laut und triumphierend, die Stimmen am Himmel verklangen. Und jetzt geschah noch etwas.

Weit in der Ferne färbte sich am Horizont die Himmelsschwärze grau. Ein sanfter, überaus frischer Wind kam auf. Ganz allmählich wurde es immer heller. Nun konnte man schon die Umrisse der Berge sehen, die sich dunkel vom Horizont abhoben. Und immer noch sang die Stimme.