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Die ganze Zeit über schritt der Löwe majestätisch auf und ab und sang dabei. Ein klein wenig beunruhigend war, daß er jedesmal ein Stückchen näher kam, wenn er sich wieder umdrehte. Von Sekunde zu Sekunde fand Polly das Lied interessanter, denn langsam kam es ihr vor, als bestünde ein Zusammenhang zwischen dem Lied und dem, was um sie herum geschah. Als in der Nähe an einem Hang eine Reihe dunkler Fichten sproß, erkannte sie, daß dies mit einer Reihe von dunklen, langgezogenen Tönen zusammenhängen mußte, die der Löwe kurz zuvor gesungen hatte. Und als er überwechselte zu einer lebhafteren Klangfolge, war Polly nicht weiter überrascht, als sie entdeckte, wie ringsumher plötzlich Schlüssel­blumen zu wachsen begannen. Sie wurde von einer unsagbaren Erregung ergriffen, und ihr wurde klar, daß all diese Dinge im Kopf des Löwen entstanden, wie sie es ausdrückte. Wenn man dem Lied lauschte, dann konnte man hören, welche Pflanzen er gerade entstehen ließ. Schaute man sich um, dann konnte man sie auch schon sehen. So aufregend war es, daß Polly gar keine Zeit hatte, Angst zu spüren. Digory und der Kutscher allerdings wurden ganz gegen ihren Willen ein wenig nervös, weil der Löwe nach jeder Wendung ein wenig näher kam. Onkel Andrew klapperte vor Angst mit den Zähnen, aber er konnte nicht weglaufen, weil seine Knie so schrecklich schlotterten.

Plötzlich ging die Hexe tollkühn ein paar Schritte auf den Löwen zu, der langsam, ständig singend, angetrottet kam, bis er nur noch etwas mehr als zehn Meter entfernt war. Nun hob Jadis den Arm und schleuderte ihm die Eisenstange an den Kopf.

Keiner hätte ihn auf diese Entfernung verfehlt, am allerwenigsten Jadis. Die Stange traf den Löwen genau zwischen die Augen, prallte ab und fiel mit einem dumpfen Schlag ins Gras. Doch das hielt den Löwen nicht auf. Er ging weder langsamer noch schneller als zuvor, und man konnte ihm nicht ansehen, ob er die Stange überhaupt gespürt hatte. Obwohl seine Tatzen nicht zu hören waren, erbebte doch die Erde.

Die Hexe kreischte auf, rannte davon und war schon kurze Zeit später zwischen den Bäumen verschwunden.

Onkel Andrew drehte sich um und wollte hinterher­rennen, doch er stolperte über eine Wurzel und fiel platt auf die Nase. Er landete in einem Bächlein, das sich hinun­terschlängelte zum Fluß. Die Kinder konnten sich nicht rühren, aber sie wußten ohnehin nicht so recht, ob sie sich überhaupt rühren wollten. Der Löwe schenkte ihnen keinen Blick. Er hatte sein großes Maul weit aufgerissen, doch nicht um zu brüllen, nein, um zu singen. So nah ging er an ihnen vorüber, daß sie seine Mähne hätten berühren kön­nen. Sie hatten schreckliche Angst, er könne sich um­drehen und sie ansehen, doch andererseits wünschten sie sich komischerweise, er möge es tun. Doch sie hätten gerade­sogut unsichtbar und unriechbar sein können, so wenig Be­ach­tung schenkte er ihnen. Er ging an ihnen über, wandte sich ein Stückchen weiter wieder um, ging noch einmal an ihnen vorbei und schritt dann weiter in Richtung Osten.

Hustend und spuckend rappelte sich Onkel Andrew wieder auf.

»So, Digory«, sagte er. »Das Weib sind wir los, und der gräßliche Löwe ist auch weg. Du gibst mir jetzt sofort die Hand und steckst den Ring an.«

»Bleib mir vom Leib!« befahl Digory und wich zurück.

»Geh bloß nicht in seine Nähe, Polly. Komm hierher und stell dich neben mich. Ich warne dich, Onkel Andrew wenn du noch einen einzigen Schritt machst, dann verschwinden wir einfach.«

»Du tust jetzt sofort, was ich dir sage!« sagte Onkel Andrew. »Du bist ein gräßlich ungehorsamer, ungezogener Bengel!«

»Kommt nicht in Frage!« widersprach Digory. »Wir wollen hierbleiben und zusehen, was geschieht. Ich dachte, du interessierst dich für andere Welten? Gefällt es dir denn nicht, jetzt, wo du hier bist?«

»Ob es mir gefällt?« rief Onkel Andrew. »Sieh doch nur, in welchem Zustand ich mich befinde. Und ich habe meine allerbeste Jacke und meine allerbeste Weste an!«

Ohne Zweifel sah er inzwischen ganz schrecklich aus. Je besser die Kleider sind, die man trägt, desto schlimmer sieht man aus, wenn man aus einer zerschmetterten Droschke krabbeln mußte und in einen schlammigen Bach gefallen ist. »Ich will damit nicht sagen, daß es hier nicht äußerst interessant ist«, fuhr er fort. »Wenn ich ein junger Mann wäre, dann – vielleicht sollte ich erst einmal einen jungen, unternehmungslustigen Burschen hierherschicken – einen Großwildjäger vielleicht. Aus dem Land könnte man etwas machen. Das Klima ist herrlich. So eine Luft habe ich noch nie gerochen. Ich glaube fast, sie hätte mir gutgetan – wären nur die Umstände günstiger gewesen. Hätten wir bloß ein Gewehr gehabt!«

»Zum Teufel damit«, meinte der Kutscher. »Will mal sehen, ob ich Goldapfel abreiben kann. Das Pferd hat mehr Grips im Hirn als manch einer von den Menschen. Aber Namen will ich keine nennen.« Er ging hinüber zu seinem Pferd und stieß dabei Zischlaute aus, so wie das die Pferdeknechte machen.

»Glaubst du denn noch immer, diesen Löwen könnte man mit dem Gewehr erlegen?« fragte Digory. »Die Eisenstange hat ihm offensichtlich nicht viel ausgemacht.«

»Welche Fehler sie auch immer haben mag – ein tollkühnes Weib ist diese Jadis«, sagte Onkel Andrew. »Das war allerhand, was sie da getan hat.« Er rieb sich die Hände und ließ die Knöchel knacken. Offensichtlich hatte er schon wieder vergessen, welche Angst ihm die Hexe jedesmal einjagte, wenn sie ihm nahe kam.

»Also, ich finde, sie hat sich gemein verhalten«, sagte Polly. »Er hatte ihr doch gar nichts getan!«

»Ach du lieber Gott! Was ist denn das?« rief da Digory.

Er rannte ein paar Schritte weiter und beugte sich nieder, um sich etwas anzuschauen. »Komm her, Polly, und sieh dir das an!«

Onkel Andrew kam ebenfalls hinterhergestapft, nicht weil er sehen wollte, was es da zu sehen gab, sondern weil er in der Nähe der Kinder bleiben wollte. Vielleicht ergab sich ja doch noch eine Gelegenheit, die Ringe zu stehlen.

Aber als er sah, was Digory da betrachtete, erwachte sogar bei ihm das Interesse. Da stand nämlich ein kleiner, kaum ein Meter hoher Laternenpfahl. Während sie zusahen, wuchs er immer höher. Gleichzeitig wurde er entsprechend kräftiger, genau wie zuvor die Bäume.

»Es ist eine richtige Laterne – und brennen tut sie auch!« rief Digory. Und tatsächlich. Hier, in der hellen Sonne, sah man natürlich kaum etwas von dem kleinen Flämmchen, höchstens dann, wenn ein Schatten auf die Laterne fiel.

»Erstaunlich, ausgesprochen erstaunlich«, brummelte Onkel Andrew. »Nicht einmal ich hätte mir träumen lassen, daß es einen derartigen Zauber gibt. Wir befinden uns in einer Welt, in der alles zum Leben erwacht und wächst sogar Laternen. Nur ist mir nicht klar, aus was für Samen Laternen entstehen.«

»Verstehst du denn nicht?« fragte Digory. »Hier ist die Eisenstange zu Boden gefallen, die Jadis in London vom Laternenpfahl abgerissen hat. Sie blieb in der Erde stecken, und jetzt wächst eine kleine, neue Laterne daraus hervor.« So klein war sie allerdings gar nicht mehr – inzwischen war sie schon genauso groß wie Digory.

»So muß es sein! Phantastisch, absolut phantastisch!«

Jetzt rieb sich Onkel Andrew die Hände noch kräftiger als sonst. »Ho, ho! Sie haben gelacht über meine Zauberei. Meine Schwester, diese Närrin, denkt, ich sei überge­schnappt. Was werden sie jetzt wohl sagen? Ich habe eine Welt entdeckt, wo alles vor Leben und Wachstum strotzt. Kolumbus, alle reden von Kolumbus. Aber was ist schon Amerika, verglichen mit dem hier? Die kommerziellen Möglichkeiten dieses Landes sind unermeßlich. Man braucht nur ein paar Eisenabfälle herzubringen, sie einzupflanzen, und schon wachsen funkelnagelneue Loko­motiven daraus hervor oder Schlachtschiffe oder was man eben haben will. Völlig kostenlos. Und in England kann ich dann alles zum vollen Preis verkaufen. Bald bin ich Millionär. Und dazu noch das Klima! Schon jetzt fühle ich mich um zwanzig Jahre jünger. Ich könnte ein Erho­lungszentrum eröffnen. Ein gutes Sanatorium in dieser Lage müßte jederzeit zwanzigtausend Pfund im Jahr einbringen. Natürlich werde ich ein paar Leute in das Geheimnis einweihen müssen. Aber als allererstes muß dieses Vieh erschossen werden!«