»Sollen wir uns gleich auf den Weg machen?« fragte Digory.
»Na gut.«
»Aber nur, wenn du es auch wirklich willst.«
»Wenn du dabei bist, dann bin ich auch dabei«, antwortete Polly.
»Aber woher sollen wir wissen, wie weit wir gehen müssen, bis wir im übernächsten Haus sind?«
So faßten sie also den Entschluß, erst einmal die Rumpelkammer auszumessen, und zwar mit Schritten, die dem Abstand zwischen zwei Balken entsprachen. Dadurch wußten sie, wieviel Balken es pro Zimmer gab.
Dann wollten sie für die Strecke von einer Dachkammer zur nächsten noch vier Balken dazuzählen. Dazu kamen dann für das Zimmer des Dienstmädchens noch einmal genauso viele Balken wie in der Rumpelkammer. Das ergab die Anzahl der Balken pro Haus. Nach der doppelten Strecke hatten sie dann Digorys Haus durchquert. Die nächste Tür dahinter mußte auf den Dachboden des leerstehenden Hauses führen.
»Aber vermutlich steht es gar nicht leer«, meinte Digory.
»Was denn sonst?«
»Ich vermute, daß dort einer heimlich wohnt. Er kommt nur nachts heraus, mit einer trüben Laterne. Vermutlich finden wir eine gefährliche Verbrecherbande und kriegen eine Belohnung. Wenn ein Haus so lange leersteht, dann tut sich da bestimmt auch irgendwas Geheimnisvolles.«
»Mein Vater sagt, es liegt an den Abwasserrohren«, erklärte Polly.
»Puh! Die Erwachsenen haben immer so langweilige Erklärungen für alles!« schimpfte Digory. Jetzt, wo sie sich bei Tageslicht in der Rumpelkammer unterhielten, kamen ihnen die Gespenster in dem leeren Haus weit weniger wahrscheinlich vor als eben noch bei Kerzenschein in der Schmugglerhöhle.
Als sie den Dachboden ausgemessen hatten, mußten sie sich einen Bleistift zum Addieren besorgen. Zuerst kam jeder auf eine andere Summe, und ich bin nicht so sicher, daß ihre Rechnung stimmte, selbst als beide zum gleichen Ergebnis kamen. Sie hatten es eilig, ihre Expedition in Angriff zu nehmen.
»Wir müssen uns ganz mucksmäuschenstill verhalten!« befahl Polly, als sie bei der Zisterne wieder in den dunklen Gang krochen. Weil es so eine wichtige Sache war, holte sich jeder von ihnen eine Kerze aus Pollys Vorrat in der Schmugglerhöhle.
Es war sehr dunkel und staubig in dem Gang, und es zog gewaltig. Schweigend stiegen sie von Balken zu Balken, und nur ab und zu flüsterten sie: »Jetzt müssen wir auf gleicher Höhe mit eurem Dachboden sein«, oder: »Jetzt haben wir etwa die Hälfte unseres Hauses hinter uns.« Keiner stolperte, die Kerzen gingen nicht aus, und schließlich kamen sie zu einer Stelle, wo rechts in der Backsteinmauer eine Tür lag. Eine Klinke gab es nicht, aber einen Riegel, so wie manchmal innen an den Schranktüren.
»Soll ich?« flüsterte Digory.
»Wenn du dabei bist, dann bin ich auch dabei«, flüsterte Polly. Beide spürten, daß es jetzt ausgesprochen ernst wurde. Aber keiner von beiden wollte einen Rückzieher machen. Digory schob mühsam den Riegel zurück, und die Tür öffnete sich. Sie mußten blinzeln, weil es plötzlich so hell wurde. Dann entdeckten sie zu ihrem großen Entsetzen, daß das keine leere Dachkammer war, sondern ein voll eingerichtetes Zimmer. Offensichtlich war keiner da. Alles war totenstill. Pollys Neugier siegte schließlich. Sie blies ihre Kerze aus und schlich mucksmäuschenstill in das Zimmer hinein.
Vom Baulichen her sah der Raum natürlich aus wie eine Dachkammer, doch war er wie ein Wohnzimmer eingerichtet. An den Wänden standen überall Regale voll mit Büchern. Im Kamin prasselte ein Feuer – der Sommer war wirklich scheußlich in diesem Jahr. Davor stand ein Sessel, dessen hohe Rückenlehne in ihre Richtung zeigte.
Zwischen dem Sessel und Polly stand ein riesiger Tisch.
Er war vollgehäuft mit allen möglichen Sachen – da gab es Bücher, nicht nur solche zum Lesen, sondern auch solche, in die man etwas schreiben kann, Tintenfässer, Federhalter, Siegelwachs und ein Mikroskop. Aber was Polly als allererstes auffiel, war ein leuchtendrotes hölzernes Tablett mit einigen Ringen darauf. Jeweils ein gelber und ein grüner Ring lagen zusammen, zwei Paare. Von der Größe her waren sie völlig normal, aber sie funkelten so, daß man einfach hingucken mußte. Sie schimmerten und schillerten und waren so wunderschön, daß es kaum zu glauben war.
Im Zimmer war es so still, daß man das Ticken der Uhr hörte. Doch nach einem Weilchen war da noch ein anderes Geräusch zu hören: ein leises, ganz hauchzartes Summen. Staubsauger gab es damals noch keine, sonst hätte Polly sicher gedacht, irgendwo weit weg sei einer in Betrieb – ein paar Zimmer weiter, ein paar Stockwerke tiefer. Aber eigentlich war es ein schöneres Geräusch als das Summen eines Staubsaugers. Musikalischer war es und so leise, daß man es kaum hören konnte.
»Alles klar, hier ist keiner«, sagte Polly über die Schulter hinweg zu Digory. Jetzt redete sie schon ein wenig lauter. Digory trat blinzelnd und ausgesprochen schmutzig ein. Aber nicht nur er war so schmutzig – Polly sah nicht viel anders aus.
»Irgendwas stimmt hier nicht«, sagte Digory. »Das Haus steht gar nicht leer. Wir sollten lieber verduften, bevor uns einer erwischt.«
»Was meinst du, was das ist?« fragte Polly und deutete auf die bunten Ringe.
»Ach, komm schon«, drängte Digory. »Je früher…«
Er kam nicht mehr dazu seinen Satz zu beenden, denn in diesem Moment bewegte sich plötzlich der hohe Sessel vor dem Kamin, und die furchteinflößende Gestalt Onkel Andrews tauchte daraus hervor, geradeso, wie wenn in einem Puppenspiel ein Dämon durch eine verborgene Tür erscheint. Sie waren überhaupt nicht in dem leerstehenden Gebäude, sie waren in Digorys Haus gelandet, und zwar in dem geheimen Arbeitszimmer des Onkels. Beide Kinder stießen einen Schrei aus, als ihnen klarwurde, daß sie sich geirrt hatten. Sie wußten alle beide, daß sie sich eigentlich darüber hätten im klaren sein müssen, daß sie noch längst nicht weit genug gegangen waren.
Onkel Andrew war sehr groß und mager. Er hatte ein langes, glattrasiertes Gesicht mit einer sehr spitzen Nase und funkelnden Augen, gekrönt von einem wirren grauen Haarbusch.
Digory war sprachlos, denn Onkel Andrew sah tausendmal unheimlicher aus als jemals zuvor. Polly hatte noch keine so große Angst, was sich allerdings bald ändern sollte. Denn als allererstes ging Onkel Andrew zur Tür und drehte den Schlüssel um. Dann wandte er sich zu den Kindern, starrte sie durchdringend an und lächelte, daß alle Zähne blitzten.
»So!« sagte er. »Diesmal kann mir deine idiotische Tante nicht in die Quere kommen.«
Er benahm sich total anders als die Erwachsenen sonst.
Polly schlug das Herz bis zum Hals. Gemeinsam wichen sie zurück zu der kleinen Tür, durch die sie eben hereingekommen waren. Doch Onkel Andrew war schneller. Er ging an ihnen vorbei, schloß auch diese Tür und baute sich davor auf. Dann rieb er sich die Hände und ließ die Gelenke knacken. Er hatte vollkommen weiße Hände mit sehr langen Fingern.
»Ich bin entzückt über euren Besuch«, sagte er.
»Gerade was ich brauche – zwei Kinder.«
»Bitte, Mr. Ketterley«, sagte Polly, »es ist fast Mittag, und ich muß heim zum Essen. Würden Sie uns bitte raus lassen?«
»Noch nicht. Diese gute Gelegenheit darf ich mir nicht entgehen lassen. Ich wollte zwei Kinder. Ich stecke nämlich mitten in einem bedeutsamen Experiment. Mit dem Meerschweinchen schien es zu funktionieren, aber ein Meerschweinchen kann ja nichts erzählen. Und erklären, wie es wieder zurückfindet, das kann man ihm auch nicht.«
»Hör mal, Onkel Andrew«, sagte Digory, »jetzt ist wirklich Zeit zum Mittagessen, und man wird gleich nach uns suchen. Du mußt uns gehen lassen.«