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»Sie sind genauso schlimm wie die Hexe!« meinte Polly. »Sie denken nur ans Umbringen!«

»Und was mich selbst betrifft«, spann Onkel Andrew seinen glücklichen Traum weiter, »so ist gar nicht auszudenken, wie lange ich leben werde, wenn ich mich hier niederlasse. Und an so etwas muß man ja schließlich denken, wenn man über sechzig ist. Es sollte mich nicht wundern, wenn ich hier in dieser Welt keinen einzigen Tag älter werde! Phantastisch! Das Land der ewigen Jugend!«

»Oh!« rief Digory. »Das Land der ewigen Jugend? Glaubst du das wirklich?« Natürlich erinnerte er sich noch dran, was Tante Letty zu der Frau mit den Trauben gesagt hatte, und jetzt begann er von neuem Hoffnung zu schöpfen. »Onkel Andrew, meinst du, hier gibt es etwas, das meine Mutter gesund machen könnte?«

»Wie kommst du denn auf die Idee?« wollte Onkel Andrew wissen. »Wir sind doch nicht in der Apotheke hier. Aber wie ich eben sagte…«

»Meine Mutter interessiert dich also keinen Pfifferling!« sagte Digory wütend. »Dabei ist sie nicht nur meine Mutter, sondern auch deine Schwester! Na ja, was soll’s. Ich frage einfach den Löwen, ob er mir helfen kann.« Er drehte sich um und ging rasch davon. Polly blieb einen Augenblick lang stehen, dann folgte sie ihm nach.

He! Halt! Kommt zurück! Der Junge ist überge­schnappt!« schrie Onkel Andrew. Er folgte den Kindern in angemessener Entfernung, denn einerseits wollte er in der Nähe der grünen Ringe bleiben, andererseits hatte er nicht vor, dem Löwen zu nahe zu kommen.

Ein paar Minuten später war Digory am Waldrand angekommen. Dort blieb er stehen. Der Löwe sang noch immer, doch inzwischen hatte sich das Lied wieder verändert. Jetzt klang es eher wie das, was wir eine Melodie nennen, nur viel wilder. Sobald man es hörte, war einem danach zumute, zu hüpfen und zu springen, zu klettern und zu schreien, und man bekam Lust, auf andere Menschen zuzurennen, sie zu umarmen oder gegen sie zu kämpfen. Digorys Gesicht wurde ganz heiß und rot. Sogar bei Onkel Andrew zeigte sich eine Wirkung, denn Digory hörte ihn sagen: »Ein mutiges Mädchen. Zu schade, daß sie so unbeherrscht ist, aber ein verdammt prächtiges Weib ist sie trotzdem. Ein verdammt prächtiges Weib.« Aber das, was dieses Lied bei den Menschen anrichtete, war noch gar nichts, verglichen mit dem, was es in der Natur auslöste.

Könnt ihr euch vorstellen, wie es aussieht, wenn eine Wiese zu blubbern beginnt wie Wasser in einem Topf?

Denn so ähnlich sah es aus, was da jetzt geschah. Ringsumher erhoben sich blasenartige Auswüchse, manche nicht größer als ein Maulwurfshügel, andere so groß wie Schubkarren und zwei so groß wie Häuser. Diese Auswüchse schwollen an und rührten sich, bis sie platzten und die lockere Erde hervorquoll. Dann tauchte aus jeder Öffnung ein Tier auf. Da kamen Maulwürfe heraus­gekrochen, genau wie man das auch in unserer Welt beobachten kann, und Hunde, die zu bellen begannen, sobald sie den Kopf frei hatten. Sie zappelten genauso, wie ein Hund das normalerweise tut, wenn er durch eine enge Lücke in der Hecke kriecht. Am eigenartigsten war es, den Hirschen zuzusehen, denn natürlich tauchten ihre Geweihe lange vor dem restlichen Körper auf, weshalb Digory zuerst meinte, es seien Bäume. Die Frösche, die alle in der Nähe des Flusses aus der Erde krabbelten, hüpften plitsch-platsch ins Wasser und begannen zu quaken. Die Panther, die Leoparden und die übrigen katzenartigen Tiere setzten sich sofort hin, putzten sich die Erdkrumen vom Fell und stellten sich an die Bäume, um die Krallen an ihren Vordertatzen zu schärfen. Aus den Bäumen erhoben sich Vogelschwärme, Schmetterlinge flatterten durch die Luft. Die Bienen ließen sich auf den Blumen nieder und machten sich so flugs an die Arbeit, als gälte es, keine Sekunde zu verlieren. Aber am beeindruckendsten war es, als der größte Auswuchs wie bei einem kleinen Erdbeben aufbrach und der gewölbte Rücken, der riesige, kluge Kopf und die vier wuchtigen Beine eines Elefanten auftauchten. Jetzt war der Gesang des Löwen kaum noch zu hören; so wie es von allen Seiten gackerte, gurrte, krähte, schrie, wieherte, kläffte, bellte, muhte, blökte und trompetete.

Zwar hörte Digory den Löwen nicht mehr, aber sehen konnte er ihn noch. Er war so riesig, und er leuchtete so, daß Digory die Augen nicht abwenden konnte. Die anderen Tiere schienen sich nicht vor dem Löwen zu fürchten.

Genau in diesem Augenblick hörte Digory von hinten Hufgeklapper; einen Augenblick später trabte der alte Droschkengaul an ihm vorbei und gesellte sich zu den übrigen Tieren. Offensichtlich hatte ihm die Luft hier genauso gut getan wie Onkel Andrew. Er sah nicht mehr aus wie der arme, alte, versklavte Gaul – jetzt hob er ordentlich die Füße an und hielt den Kopf hoch aufgereckt. Der Löwe verstummte und begann, zwischen den Tieren auf und ab zu gehen, die sich paarweise – jeweils ein männliches und ein weibliches Tier zusammen – aufgestellt hatten Von Zeit zu Zeit trat er zu einem Tierpaar und rieb mit seiner Nase an den ihren. Von allen Dachsen berührte er also zwei, genauso hielt er es bei den Leoparden, bei den Hirschen und bei all den anderen. Einige Tierarten ließ er allerdings ganz außer acht. Die Paare, die er berührt hatte, verließen ihre Artgenossen und folgten ihm.

Zuletzt blieb er reglos stehen, und all die ausgewählten Kreaturen umstanden ihn in einem weiten Kreis. Die anderen trollten sich nach und nach davon, und ihre verschiedenen Geräusche verklangen langsam in der Ferne.

Die auserwählten Tiere verhielten sich vollkommen still, und alle hatten den Blick auf den Löwen gerichtet. Die katzenartigen Tiere zuckten ab und zu mit dem Schwanz, doch sonst rührte sich keiner. Zum ersten Mal an diesem Tag herrschte absolute Stille. Nur das Plätschern des Wassers war noch zu hören. Digory schlug das Herz bis zum Hals; er wußte, daß etwas Feierliches bevorstand.

Seine Mutter hatte er nicht vergessen, aber er wußte, das, was hier stattfand, durfte er nicht unterbrechen, nicht einmal ihretwegen.

Ohne ein einziges Mal zu blinzeln, starrte der Löwe die Tiere so durchdringend an, als wolle er sie mit seinem Blick verbrennen. Nach und nach veränderten sie sich.

Die kleinen – so wie zum Beispiel die Kaninchen und die Maulwürfe – wurden wesentlich größer, die großen wurden ein bißchen kleiner. Vor allem bei den Elefanten fiel das auf. Viele setzten sich auf die Hinterbeine, und die meisten legten den Kopf schief, so als müßten sie sich mächtig anstrengen, um zu verstehen, was da vor sich ging. Der Löwe öffnete das Maul, doch kein Ton kam heraus. Er stieß einen langwährenden warmen Atemzug aus, unter dem die Tiere sanft zu schwanken begannen wie Bäume im Wind. Hoch oben, hinter dem Schleier des blauen Himmels, begannen die Sterne wieder zu singen, mit einer reinen, kalten, schwierigen Melodie. Dann zuckte ein Strahl herab, so grell wie Feuer, doch er verbrannte keinen. Entweder der Himmel oder der Löwe hatte ihn ausgesandt. Die Kinder erschauerten, als die tiefste, wildeste Stimme, die je vernommen wurde, verkündete: »Narnia, Narnia, erwache! Lieben sollst du. Denken. Reden. Den Bäumen sollen Füße wachsen, den Kreaturen Stimmen. Heilig seien deine Gewässer.«

DER ERSTE WITZ UND ANDERES MEHR

Das war natürlich die Stimme des Löwen. Die Kinder hatten schon lange geahnt, daß er sprechen konnte; trotzdem war es ein herrlicher und schlimmer Schreck, als er es dann wirklich tat.

Zwischen den Bäumen trat ein wildes Völkchen hervor, Götter und Göttinnen des Waldes. Mit ihnen kamen Faune, Satyre und Zwerge, und aus dem Fluß erhob sich der Flußgott mit seinen Najadentöchtern. Und mit den verschiedensten Stimmen – laut und leise, hoch und tief entgegneten sie gemeinsam mit den Tieren: »Sei gegrüßt, Aslan. Wir hören und gehorchen. Wir sind erwacht. Wir lieben. Wir sprechen. Wir wissen.«