»Es war ein hartes, grausames Land«, sagte Goldapfel.
»Kein Gras. Nur harte Steine.«
»Ganz recht, alter Knabe, ganz recht«, stimmte der Kutscher zu, »‘ne harte Welt war’s. Ja, das war’s. Ich hab immer gesagt, die Pflastersteine sind nichts Rechtes für ‘n Pferd. Aber so ist das eben in London. Hat mir genausowenig gefallen wie dir. Du kamst vom Land, und ich genauso. Im Chor hab ich gesungen, ja wirklich, da, wo ich herkam. Aber dort war nichts zu verdienen für mich.«
»Oh, bitte, bitte«, sagte Digory. »Könnten wir weitergehen? Der Löwe ist schon so weit weg. Und ich muß wirklich unbedingt mit ihm reden.«
»Hör zu, Goldapfel«, sagte der Kutscher. »Dieser junge Herr hat was zu besprechen mit dem Löwen, den ihr Aslan nennt. Du könntest ihn ja auf dir reiten lassen und ihn zum Löwen rüber bringen. Das war’ dem jungen Mann bestimmt recht. Ich komm dann mit dem kleinen Mädchen hinterher.«
»Reiten soll ich ihn lassen?« fragte Goldapfel. »Oh, jetzt fällt es mir wieder ein. Das bedeutet, daß er sich auf meinen Rücken setzt. Vor langer Zeit gab es mal so einen kleinen Zweibeiner wie euch, der hat das auch gemacht. Er hat mir immer so kleine, harte viereckige Dinger aus weißem Zeug gegeben. Herrlich hat das geschmeckt noch süßer als Gras.«
»Oh, das muß Zucker gewesen sein«, meinte der Kutscher.
»Bitte, Goldapfel, laß mich auf deinem Rücken sitzen und bring mich zu Aslan«, bat Digory.
»Na gut«, sagte das Pferd. »Ausnahmsweise. Hinauf mit dir.«
»Guter alter Goldapfel«, meinte der Kutscher. »Hier, Kleiner, ich heb dich hoch.« Gleich darauf saß Digory auf Goldapfels Rücken. Er saß sogar recht bequem, denn sein eigenes Pony hatte er auch schon ohne Sattel geritten.
»So, los geht’s, Goldapfel!« rief er.
»Du hast nicht zufällig ein bißchen von dem weißen Zeug dabei, was?« erkundigte sich das Pferd.
»Nein, leider nicht.«
»Na ja, da kann man nichts machen«, seufzte Goldapfel und setzte sich in Bewegung.
In diesem Moment meldete sich eine große Bulldogge, die unentwegt herumschnüffelte und sich umsah: »Seht mal, da drüben am Fluß! Unter den Bäumen! Ist da nicht noch eines von diesen komischen Dingern?«
Alle schauten hinüber. Dort unter den Rhododendronbüschen stand Onkel Andrew. In der Hoffnung, keiner möge ihn sehen, verhielt er sich mucksmäuschenstill.
»Los!« erklangen mehrere Stimmen. »Wir laufen über und gucken nach.« Während also Goldapfel mit Digory auf dem Rücken und Polly und dem Kutscher auf den Fersen rasch in die eine Richtung trottete, rannten fast alle Tiere brüllend, bellend und grunzend zu Onkel Andrew hinüber.
Ich muß jetzt ein Stückchen zurückgehen und erklären, wie sich diese ganzen Vorkommnisse aus Onkel Andrews Sicht abgespielt hatten. Auf ihn hatte das Ganze einen völlig anderen Eindruck gemacht als auf den Kutscher und die beiden Kinder. Denn was man sieht und hört, hängt immer weitgehend davon ab, wo man steht.
Und natürlich ist es auch wichtig, was für ein Mensch man selbst ist.
Seit dem ersten Auftauchen der Tiere war Onkel Andrew immer weiter ins Gebüsch zurückgewichen. Natürlich behielt er sie ganz genau im Auge – nicht weil ihn interessierte, was sie taten, sondern weil er sehen wollte, ob sie einen Angriff auf ihn starteten. Er war schrecklich unpraktisch veranlagt, genau wie die Hexe. Ihm fiel überhaupt nicht auf, daß Aslan von jeder Tiergattung ein Paar auswählte. Er sah nur, daß viele gefährliche Tiere ziellos hin und her liefen. Außerdem überlegte er unentwegt, warum sie wohl nicht vor dem riesigen Löwen davonrannten.
Auch der große Augenblick, als die Tiere zu reden begannen, ging völlig unbemerkt an ihm vorüber. Der Grund dafür war recht interessant. Ganz am Anfang, als es noch dunkel war, da hatte Onkel Andrew das Lied des Löwen gehört. Und das hatte ihm ganz und gar mißfallen. Es löste Gedanken und Gefühle in ihm aus, die ihm widerstrebten. Dann, als die Sonne aufging und er sah, daß es ein Löwe war, der da sang, bemühte er sich krampfhaft, sich einzureden, das sei kein Gesang, sondern vielmehr ganz normales Löwengebrüll, so wie man das in allen Tiergärten der Welt hören kann. Das kann doch gar kein Lied gewesen sein, dachte er. Reine Einbildung. Ich verliere langsam die Nerven. Ein Löwe, der singt? Nie gehört! Und je länger und schöner der Löwe sang, desto mehr redete Onkel Andrew sich ein, daß es nur Gebrüll war, was er da hörte. Und wenn man versucht, sich selber dümmer zu machen, als man ist, dann gelingt einem das blöderweise auch meistens. So ging es jetzt Onkel Andrew. Schon nach kürzester Zeit hörte er tatsächlich nur noch Löwengebrüll. Ein kleines Weilchen später hätte er das Lied auch dann nicht mehr gehört, wenn er gewollt hätte. Als der Löwe schließlich zu reden begann und sagte: »Narnia, erwache!«, da hörte er nur ein Fauchen. Und als die Tiere antworteten, hörte er nur Gebell, Geknurre, Gekläffe und Geheul. Und als sie zu lachen begannen, da erschrak er zu Tode. So ein schrecklich blutrünstiges Toben von hungrigen und wütenden Bestien hatte er noch nie gehört. Dann sah er zu seinem Entsetzen, wie die anderen drei Menschen hervortraten und auf die Tiere zugingen.
Diese Narren! sagte er bei sich. Jetzt fressen diese Bestien die Kinder mitsamt den Ringen, und ich komme nie wieder weg von hier. Dieser Digory denkt wirklich nur an sich! Und die anderen genauso. Wenn sie sich unbedingt umbringen wollen, dann ist das ihre Sache. Aber was ist mit mir? Das ist denen egal. An mich denkt keiner.
Als die ganze Meute schließlich auf ihn zugerast kam, drehte er sich um und rannte um sein Leben. Jetzt war ganz klar zu erkennen, daß die gute Luft dieser jungen Welt dem alten Knaben ausgesprochen guttat. In London war er zum Rennen viel zu alt gewesen; hier raste er so schnell, daß er mit seiner Geschwindigkeit noch einen Wettlauf hätte gewinnen können. So rannte er also mit flatternden Frackschößen dahin, was urkomisch aussah, aber natürlich nützte ihm das überhaupt nichts. Viele der Tiere konnten schrecklich schnell rennen, außerdem rannten sie das erste Mal in ihrem Leben, und sie wollten ihre neuen Muskeln ausprobieren. »Nichts wie hinterher!« riefen sie. »Vielleicht ist er diese Blöße! Hallo! Ho! Nichts wie los! Schneidet ihm den Weg ab! Kreist ihn ein! So ist’s recht! Hurra!«
Kurz darauf hatten einige von ihnen Onkel Andrew schon überholt. Jetzt stellten sie sich in einer Reihe auf und versperrten ihm den Weg. Die anderen kamen von hinten. Er mochte hinschauen, wo er wollte: Jedesmal packte ihn das Entsetzen. Da ragten riesige Elchgeweihe, über ihm drohte das riesige Gesicht eines Elefanten, hinter ihm brummten und grunzten schwere, übelgelaunte Bären und Wildschweine; Leoparden und Panther mit überheblichen Gesichtern starrten ihn sarkastisch an (so kam es ihm wenigstens vor) und zuckten dabei mit den Schwänzen. Was ihn am meisten beeindruckte, waren die vielen offenen Mäuler. In Wirklichkeit sperrten die meisten ihr Maul nur auf, weil ihnen so warm war, daß sie hecheln mußten. Aber Onkel Andrew war sicher, daß sie ihn fressen wollten.
Zitternd und wankend stand er da. Selbst zu den besten Zeiten war er nicht gerade ein Tierfreund. Er hatte nämlich meistens Angst vor ihnen. Dazu kamen die vielen grausamen Experimente in den letzten Jahren, und dadurch haßte und fürchtete er sich noch viel mehr.
»So!« sagte die Bulldogge ganz sachlich. »Bist du Tier, Pflanze oder Mineral?« Doch alles, was Onkel Andrew hörte, war ein »Gr-r-r-arrr-orrr!«
DIGORY UND ONKEL ANDREW ERGEHT ES SCHLECHT