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Wer käme wohl auf die Idee, über die Mauer zu steigen, wenn er durchs Tor gehen kann? Wie es wohl aufgeht? Er legte die Hand darauf, und im selben Augenblick schwan­gen die beiden Flügel völlig geräuschlos nach innen.

Jetzt, wo er in den Garten hineinsehen konnte, wirkte dieser noch privater als zuvor. Mit einem feierlichen Gefühl trat Digory ein und blickte sich um. Sehr still war es hier drinnen. Sogar vom Springbrunnen in der Mitte des Gartens her erklang nur ein leises Murmeln. Der liebliche Duft umgab ihn von allen Seiten. Ein glücklicher Ort war dieser Garten, doch irgendwie war es sehr feierlich hier.

Digory erkannte den richtigen Baum sofort, einerseits, weil er genau in der Mitte stand, andererseits, weil die großen silbernen Äpfel, mit denen er beladen war, so stark leuchteten, daß sie ihr Licht auf die schattigen Stellen darunter warfen, wo die Sonne nicht hinkam. Er ging geradewegs auf den Baum zu, pflückte einen Apfel und wollte ihn in die Brusttasche seiner Jacke stecken. Aber er konnte es sich nicht verkneifen, ihn erst einmal anzusehen. Und daran schnuppern mußte er auch.

Das hätte er besser lassen sollen. Schlagartig bekam er schrecklichen Durst und Hunger, und er kriegte große Lust, so eine Frucht zu probieren. Rasch steckte er den Apfel in die Tasche, doch dort am Baum hingen ja noch viele andere. Ob es wohl verboten war, einen zu kosten?

Vielleicht, dachte er, vielleicht war ja der Spruch am Tor kein richtiger Befehl, sondern nur ein Ratschlag. Und einen Ratschlag brauchte man ja nicht unbedingt befolgen. Und selbst wenn es ein Befehl war – den ersten Teil, nämlich für einen anderen eine Frucht zu pflücken, hatte er ja schon befolgt; also machte es vielleicht nichts aus, wenn er jetzt auch noch selbst einen aß.

Während er über all diese Dinge nachdachte, schaute er zufällig durch die Äste hinauf zum Baumwipfel. Dort, auf einem Ast über seinem Kopf, saß ein wunderschöner Vogel. Fast sah es so aus, als schliefe er, aber doch nicht ganz. Ein Auge war nämlich ein winziges bißchen geöffnet. Größer als ein Adler war der Vogel, seine Brust war safrangelb, er war scharlachrot beschopft, und seine Schwanzfedern leuchteten purpurn.

Später, als Digory die Geschichte den anderen erzählte, sagte er: »Das zeigt mal wieder, daß man an diesen Zauberorten nicht vorsichtig genug sein kann. Man weiß nie, wer einen beobachtet.« Aber ich glaube, daß sich Digory so oder so keinen Apfel genommen hätte. Ich glaube, in jenen Tagen wurden einem Jungen ein Spruch wie »Du sollst nicht stehlen« noch wesentlich mehr eingehämmert als heutzutage. Aber ganz sicher ist man bei solchen Dingen natürlich nie.

Eben wandte sich Digory um und wollte zurückgehen zum Tor, da blieb er noch einmal stehen, um sich ein letztes Mal umzusehen. Er erschrak zu Tode. Er war nicht allein. Da, ein paar Schritte weiter, stand die Hexe. Sie warf gerade das Kerngehäuse des Apfels weg, den sie eben gegessen hatte. Der Saft war dunkler, als man vermutet hätte, denn um ihren Mund herum hatte sich ihre Haut häßlich verfärbt. Digory schöpfte sofort Verdacht, sie müsse über die Mauer geklettert sein. Und jetzt begriff er langsam, daß die letzte Zeile von dem erfüllten Herzenswunsch und der Verzweiflung vielleicht doch einen Sinn ergab, denn die Hexe sah stärker und stolzer aus als je zuvor, sogar irgendwie triumphierender; aber ihr Gesicht war schneeweiß, so weiß wie der Tod.

All dies fuhr Digory blitzschnell durch den Kopf; dann nahm er seine Fersen in die Hand und rannte schnell wie der Blitz zum Tor. Die Hexe rannte hinterher. Sobald er draußen war, schloß sich das Tor hinter ihm ganz von selbst. Das verschaffte ihm einen kleinen Vorsprung, doch nicht für lange. Schon als er bei den anderen ankam und schrie: »Steig schnell auf, Polly! Flieg los, Flügelpfeil!«, war die Hexe über die Mauer geklettert oder vielleicht auch gehüpft und hatte ihn fast eingeholt.

»Bleiben Sie, wo Sie sind!« rief Digory und drehte sich zu ihr um. »Sonst verschwinden wir alle drei! Keinen Schritt näher!«

»Du Narr!« schrie die Hexe. »Warum rennst du denn vor mir davon? Ich will dir doch nichts zuleide tun. Wenn du nicht stehenbleibst und mir zuhörst, dann entgeht dir etwas, das dich für den Rest deines Lebens glücklich gemacht hätte.«

»Vielen Dank, ich will es gar nicht hören«, antwortete Digory. Aber das stimmte nicht.

»Ich weiß, mit welchem Auftrag du hierhergekommen bist«, fuhr die Hexe fort. »Denn letzte Nacht im Wald stand ich ganz nah bei euch und belauschte eure Unterhaltung. Du hast in diesem Garten eine Frucht gepflückt, die du jetzt in der Tasche trägst. Und ohne sie gekostet zu haben, willst du sie dem Löwen bringen, damit er sie ißt, damit er sie verwendet. Du Einfaltspinsel! Weißt du, was das für eine Frucht ist? Ich will es dir sagen. Es ist ein Apfel der Jugend, ein Apfel des Lebens. Ich weiß es, denn ich habe ihn gekostet und die Veränderungen, die ich in mir spüre, sagen mir, daß ich nie alt werden und nie sterben werde. Iß ihn, Junge. Iß ihn, dann werden wir beide ewig leben, und wir werden über diese Welt hier herrschen oder über deine Welt, sollten wir uns entschließen, dorthin zurückzukehren.«

»Nein, danke«, sagte Digory. »Ich habe keine Lust, ewig zu leben, wenn alle meine Bekannten schon tot sind. Ich lebe lieber ganz normal, und dann sterbe ich und komme in den Himmel.«

»Aber was ist mit deiner Mutter, die du ja angeblich so liebst?«

»Was hat denn die damit zu tun?« fragte Digory.

»Verstehst du denn nicht, du Narr, daß ein Bissen dieses Apfels sie heilen kann? Da steckt er, dort in deiner Tasche. Wir sind ganz allein hier, der Löwe ist weit. Benutze deinen Zauber und kehre in deine Welt zurück. Schon eine Minute später kannst du am Bett deiner Mutter stehen und ihr die Frucht überreichen. Fünf Minuten später wirst du sehen, wie ihre Wangen wieder Farbe bekommen, und sie wird dir sagen, daß ihre Schmerzen verschwunden sind. Bald wird sie sich wieder kräftiger fühlen, und dann wird sie schlafen. Stell dir vor: stundenlang wird sie schlafen, ohne Medikamente, ohne Schmerzen. Am nächsten Tag wird jeder sagen, wie prächtig sie sich erholt hat, und kurz darauf ist sie wieder ganz gesund. Und dann wird alles wieder gut. Ihr werdet wieder eine glückliche Familie, und du kannst wieder leben wie ein ganz normaler Junge.«

»Oh!« stöhnte Digory. Er hörte sich an, als täte ihm etwas weh, und er legte die Hand an den Kopf. Jetzt wurde ihm klar, daß er eine ganz schreckliche Entscheidung treffen mußte.

»Welchen Grund hast du denn, dem Löwen als Sklave zu dienen? Was hat er denn jemals für dich getan?« wollte die Hexe wissen. »Was hast du denn von ihm zu befürchten, wenn du erst einmal in deine eigene Welt zurückgekehrt bist? Und was würde deine Mutter von dir denken, wenn sie wüßte, daß es in deiner Hand lag, sie von ihren Schmerzen zu befreien, ihr das Leben zu retten und zu verhindern, daß deinem Vater das Herz bricht? Daß all dies in deiner Macht lag und du es vorgezogen hast, dich dagegen zu entscheiden? Statt dessen hast du in einer fremden Welt, die dich nichts angeht, die Befehle eines wilden Tieres ausgeführt.«

»Ich – ich glaube nicht, daß er ein wildes Tier ist«, sagte Digory mit völlig tonloser Stimme. »Er ist – ich weiß nicht…«

»Dann ist er etwas noch Schlimmeres«, sagte die Hexe.

»Schau nur, was er dir angetan hat: Schau nur, wie herzlos er dich gemacht hat. Das macht er mit jedem, der ihm zuhört. Grausamer, herzloser Junge! Lieber läßt du deine Mutter sterben, als…«

»Halten Sie endlich den Mund«, sagte der unglückliche Digory, immer noch mit der gleichen Stimme. »Glauben Sie nur nicht, ich verstünde das alles nicht. Aber ich – ich habe mein Versprechen gegeben.«

»Ja, aber du wußtest ja nicht, was du da versprachst. Und hier ist keiner, der dich zurückhält.«

»Meiner Mutter wäre das nicht recht«, sagte Digory, und er bekam kaum die Worte heraus. »Sie ist furchtbar streng. Versprechen muß man halten, und man darf nicht stehlen – und all das. Wenn sie da wäre, dann würde sie versuchen, mich davon abzuhalten. Auf jeden Fall.«

»Aber sie braucht es ja nie zu erfahren«, sagte die Hexe mit so süßer Stimme, wie man sie bei einer derart ungestüm aussehenden Frau nie erwartet hätte. »Du mußt ihr doch gar nicht erzählen, woher du den Apfel hast. Auch dein Vater braucht es nie zu erfahren. Keiner in deiner Welt braucht von dieser Sache etwas zu wissen. Es besteht kein Grund, das kleine Mädchen mitzunehmen.«

Und hier machte die Hexe einen schwerwiegenden Fehler. Natürlich wußte Digory, daß Polly mit ihrem Ring jederzeit von hier verschwinden konnte, genau wie er mit seinem. Aber die Hexe wußte das offensichtlich nicht. Jetzt, nach diesem hinterhältigen Vorschlag, klang plötzlich all das, was sie zuvor gesagt hatte, hohl und falsch. Und so elend er sich auch fühlte, jetzt wurde sein Kopf plötzlich klar, und mit völlig veränderter und lauterer Stimme sagte er: »Was hat das denn eigentlich mit Ihnen zu tun? Weshalb ist Ihnen denn plötzlich meine Mutter so wichtig? Was wird denn hier gespielt?«

»Recht so, Digory«, flüsterte ihm Polly ins Ohr.

»Schnell! Nichts wie weg von hier!« Bisher hatte sie nicht gewagt, sich einzumischen, denn es war ja schließlich nicht ihre Mutter, die im Sterben lag.

»Hinauf mit dir!« befahl Digory. Er hob sie auf Flügel­pfeils Rücken und krabbelte hinterher, so schnell er nur konnte. Das Pferd breitete die Flügel aus.

»Geht nur, ihr Narren!« rief die Hexe. »Du wirst an mich denken, Junge, wenn du alt bist und schwach und im Sterben liegst. Und dann wird dir einfallen, daß du einmal die Gelegenheit hattest, dir die ewige Jugend zu bewahren. Nie wieder wird man dir so ein Angebot machen.«

Doch sie flogen schon so hoch in der Luft, daß sie die letzten Worte der Hexe nur noch mit Mühe verstanden.

Ohne sich die Zeit zu nehmen, dem Pferd und den Kindern nachzusehen, wandte sich Jadis nach Norden und kletterte den Abhang hinunter.

Da sie frühmorgens aufgebrochen waren und ihr Aufenthalt im Garten nicht lange gedauert hatte, waren sich Flügelpfeil und Polly einig, man könne ohne weiteres noch vor Einbruch der Dunkelheit wieder in Narnia sein.

Digory sagte auf dem ganzen Rückweg kein einziges Wort, und die anderen scheuten sich, ihn anzusprechen.

Er war sehr traurig. Zeitweise war er nicht einmal sicher, ob er richtig gehandelt hatte. Doch jedesmal, wenn ihm die schimmernden Tränen in Aslans Augen einfielen, schwanden seine Zweifel.

Flügelpfeil flog den ganzen Tag stetig und ohne zu ermüden. Nach Osten flog er, am Fluß entlang, zwischen den Bergen hindurch, über die wilden bewaldeten Hänge und den großen Wasserfall hinweg. Dann sanken sie tiefer und immer tiefer bis zu der Stelle, wo die mächtigen Klippen die Wälder Narnias verdunkelten, bis sich schließlich der Himmel rot verfärbte, als hinter ihnen die Sonne unterging. Jetzt entdeckte Flügelpfeil, daß sich am Flußufer viele Tiere versammelt hatten, und schon bald konnte er Aslan unter ihnen erkennen. Flügelpfeil ließ sich hinabgleiten, spreizte die Beine, schloß die Flügel und landete. Er galoppierte noch ein kleines Stückchen, dann blieb er stehen, und die Kinder kletterten von seinem Rücken.

Digory sah, wie all die Tiere, die Zwerge, die Satyre, die Nymphen und die anderen Kreaturen nach links und rechts zurückwichen, um ihm Platz zu machen. Er ging geradewegs zu Aslan, überreichte ihm den Apfel und sagte: »Ich habe dir den Apfel gebracht, den du haben wolltest, Herr.«