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»Jetzt verstehe ich«, sagte Polly. »Und vermutlich wirkt er auch nicht bei ihr, weil sie unrecht tat, ihn zu nehmen. Sie bleibt also nicht für immer jung, oder?«

»Doch«, sagte Aslan und schüttelte den Kopf. »Doch. Die Dinge wirken immer so, wie es in ihrer Natur liegt. Sie hat sich einen Herzenswunsch erfüllt; sie verfügt über nicht nachlassende Kräfte, und ihre Tage werden endlos währen, wie die einer Göttin. Doch ein immerwährendes Leben mit bösem Herzen bedeutet immerwährendes Elend, und sie fängt schon an, dies zu begreifen. Alle erreichen, was sie wollen: doch nicht immer gefällt es ihnen auch.«

»Ich hab’ fast auch einen gegessen«, sagte Digory.

»Wäre ich…«

»Ja, mein Kind«, sagte Aslan. »Denn die Frucht wirkt immer – sie muß wirken –, aber für jene, die sie aus eigenem Willen pflücken, bewirkt sie nichts Gutes. Hätte irgendein Narniane einen Apfel gestohlen und ihn hier zum Schutze Narnias eingepflanzt, ohne dazu beauftragt worden zu sein, so hätte der Apfel Narnia tatsächlich beschützt. Aber der Schutz hätte darin bestanden, daß Narnia – genau wie Charn – ein starkes und grausames Imperium geworden wäre und nicht das freundliche Land, das ich geplant hatte. Die Hexe wollte dich auch noch zu etwas anderem überreden, mein Sohn, nicht wahr?«

»Ja, Aslan. Sie wollte, daß ich meiner Mutter einen Apfel bringe.«

»Wisse denn, der Apfel hätte sie geheilt; doch weder zu deiner noch zu ihrer Freude. Der Tag wäre gekommen, wo ihr alle beide gesagt hättet, es wäre besser gewesen, an dieser Krankheit zu sterben.«

Digory konnte nichts sagen, denn die Tränen preßten ihm die Kehle zu, und er gab alle Hoffnung auf, das Leben seiner Mutter zu retten. Doch gleichzeitig war ihm klar, daß der Löwe wußte, was geschehen wäre, hätte Digory ihr einen Apfel gebracht. Und klar war ihm auch, daß es Dinge gab, die noch schrecklicher waren, als einen geliebten Menschen zu verlieren, weil er stirbt. Doch nun begann Aslan wieder zu reden, und fast flüsternd sagte er: »Genau das wäre passiert, mein Junge, mit einem gestohlenen Apfel. Doch nun wird das nicht geschehen. Was ich dir jetzt gebe, wird Freude bringen. In eurer Welt wird er kein endloses Leben bringen, aber Heilung. Geh! Pflück ihr einen Apfel vom Baum.«

Einen Augenblick lang konnte es Digory kaum glauben. Ihm war, als hätte sich die ganze Welt von innen nach außen und von oben nach unten gekehrt. Und dann ging er wie im Traum hinüber zum Baum, während ihm der König und die Königin und alle anderen zujubelten.

Er pflückte einen Apfel und steckte ihn in die Tasche.

Dann kehrte er zu Aslan zurück.

»Bitte, Aslan«, sagte er. »Dürfen wir jetzt nach Hause?«

Er hatte vergessen, sich zu bedanken, aber dankbar war er, und das wußte Aslan auch so.

DAS ENDE DIESER GESCHICHTE UND DER BEGINN ALLER ANDEREN

»Ihr braucht keine Ringe, wenn ich bei euch bin«, sagte die Stimme Aslans. Die Kinder blinzelten und sahen sich um. Sie befanden sich wieder im Wald zwischen den Welten; Onkel Andrew lag im Gras und schlief noch immer; an ihrer Seite stand Aslan.

»Kommt«, sagte er. »Es wird Zeit, daß ihr zurückkehrt. Doch zwei Dinge zuerst: eine Warnung und ein Befehl. Seht her, Kinder.«

Sie schauten hin und sahen eine kleine Kuhle im Gras, deren Boden grasbewachsen, warm und trocken war.

»Als ihr das letzte Mal hier wart«, sagte Aslan, »da war diese Vertiefung noch ein Teich, und als ihr hineinhüpftet, kamt ihr zu einer Welt, wo eine sterbende Sonne die Ruinen von Charn beschien. Der Teich ist jetzt verschwunden. Die Welt ist erloschen, als hätte es sie nie gegeben. Dies soll der Rasse von Adam und Eva eine Warnung sein.«

»Ja, Aslan«, sagten die beiden Kinder. Doch Polly fügte hinzu: »Aber wir sind nicht ganz so schlecht, wie diese Welt es war, oder, Aslan?«

»Noch nicht, Tochter Evas«, sagte er. »Noch nicht. Doch ihr werdet ihr immer ähnlicher. Es ist nicht gewiß, ob nicht ein paar Bösewichte eurer Rasse ein Geheimnis heraus­finden werden, das so böse ist wie das Unaussprechliche Wort, und daß sie es benutzen werden, um alles Leben zu vernichten. Und bald, sehr bald, bevor ihr beide alt geworden seid, werden große Nationen eurer Welt von Tyrannen regiert werden, denen an Glück und Gerechtigkeit und Gnade auch nicht mehr liegt als Jadis, der Königin von Charn. Davor soll sich eure Welt hüten. Das war die Warnung. Und nun zum Befehl. Sobald ihr könnt, müßt ihr eurem Onkel seine Zauberringe wegnehmen und sie vergraben, damit keiner sie mehr benutzen kann.«

Beide Kinder sahen hinauf ins Gesicht des Löwen, während er sprach. Und ganz plötzlich – wie es dazu kam, wußten sie weder jetzt noch später – schien dieses Gesicht zu einem bewegten Meer aus Gold zu werden, in dem sie trieben, und um sie herum, über sie hinweg und in sie hinein floß eine derartige Süße und Kraft, daß sie das Gefühl hatten, nie zuvor seien sie jemals wirklich glücklich, weise oder gut gewesen und auch nicht lebendig und nicht wach. Und die Erinnerung an diesen Augenblick blieb ihnen für immer erhalten, und wenn sie jemals traurig oder ängstlich oder böse wurden, dann fiel ihnen dieses goldene Glück wieder ein, und sie spürten, daß es immer noch vorhanden war – ganz in der Nähe, gleich um die Ecke oder gleich hinter einer Tür. Und dieser Gedanke verlieh ihnen ganz tief drinnen die Sicherheit, daß alles gut war. Einen Augenblick später stolperten alle drei gemeinsam in das laute, heiße und stickige London zurück.

Sie standen draußen auf dem Gehsteig vor dem Haus der Ketterleys, und abgesehen davon, daß die Hexe, das Pferd und der Kutscher fehlten, war alles noch genauso, wie sie es zurückgelassen hatten. Da stand der Laternenpfahl, an dem ein Arm fehlte; da lag die zerschmetterte Droschke, und auch die vielen Leute standen immer noch herum. Sie redeten wild durcheinander, ein paar knieten neben dem verletzten Polizisten und sagten so Dinge wie »Er kommt zu sich« oder »Na, wie geht’s, guter Mann?« oder »Der Krankenwagen muß jeden Augenblick kommen.«

Herr im Himmel! dachte Digory. Mir kommt es so vor, als habe das ganze Abenteuer überhaupt keine Zeit in Anspruch genommen.

Fast alle suchten verwirrt nach der Hexe und dem Pferd. Keiner achtete auf die Kinder, denn keiner hatte sie verschwinden oder wieder auftauchen sehen. Onkel Andrew hingegen konnte man sowieso nicht erkennen, so wie seine Kleider aussahen und mit all dem Honig auf seinem Gesicht. Glücklicherweise war die Haustür offen, denn dort stand noch immer das Dienstmädchen und schaute sich den Spektakel an. Also konnten die Kinder Onkel Andrew ins Haus schaffen, ohne daß irgendeiner irgendwelche Fragen stellte.

Onkel Andrew rannte wie der Blitz die Treppe hinauf. Zuerst befürchteten sie, er sei auf dem Weg zu seinem Arbeitszimmer und wolle die restlichen Ringe verstecken. Aber da hätten sie sich keine Sorgen zu machen brauchen. Er hatte nur die Flasche im Sinn, die in seinem Schrank stand, und er verschwand sofort in seinem Schlafzimmer und schloß die Tür hinter sich ab. Als er wieder herauskam – was eine Ewigkeit dauerte –, hatte er seinen Bademantel angezogen und ging schnurstracks auf das Badezimmer zu.

»Kannst du die anderen Ringe holen, Polly?« fragte Digory. »Ich will zu meiner Mutter.«

»Klar. Bis später«, sagte Polly und polterte die Treppe zum Dachboden hinauf.

Digory nahm sich eine Minute Zeit, bis er verschnauft hatte, dann ging er leise ins Zimmer seiner Mutter. Und da lag sie, so wie er sie schon oft gesehen hatte, mit Kissen im Rücken und mit einem so dünnen, blassen Gesicht, daß man fast weinen mußte, wenn man sie anschaute. Digory nahm den Lebensapfel aus der Tasche.