Ich wette, sie war eine böse Fee, dachte Digory. Laut fügte er hinzu: »Aber was ist jetzt mit Polly?«
»Weshalb mußt du denn immer wieder davon anfangen?« zeterte Onkel Andrew. »Als wäre das so wichtig! Meine erste Aufgabe war es natürlich, die Schatulle selbst zu untersuchen. Sie war uralt. Sogar damals wußte ich schon, daß sie nicht griechisch sein konnte, nicht altägyptisch, babylonisch, hethitisch oder chinesisch. Sie war älter als all diese Kulturen. Ah – welch großer Tag, als ich endlich die Wahrheit erfuhr! Die Schatulle kam aus Atlantis, der verschollenen Insel. Das bedeutet, daß sie viele Jahrhunderte älter war als all die Dinge aus der Steinzeit, die man in Europa ausgegraben hat. Sie war auch nicht so ungeschlacht und so grob wie die Sachen von damals. Denn schon zu Anbeginn aller Zeiten war Atlantis eine mächtige Stadt mit Palästen, Tempeln und Gelehrten.«
Er schwieg einen Augenblick, als warte er auf einen Kommentar von Digory. Aber der konnte seinen Onkel von Minute zu Minute weniger leiden, also hielt er den Mund.
»Inzwischen lernte ich viele andere Dinge über die Magie ganz im allgemeinen«, fuhr Onkel Andrew fort. »Aber das kann ich dir nicht alles erklären. Dafür bist du zu jung. Mit der Zeit konnte ich mir dann recht gut vorstellen, was für Dinge sich in der Schatulle befinden mochten. Durch die verschiedenen Versuche engte ich die Möglichkeiten weitgehend ein. Ich mußte einige – nun ja, einige außerordentlich eigenartige Leute kennenlernen und ein paar sehr unangenehme Erfahrungen machen. Dabei ergraute mein Haar. Man wird kein Zauberer, ohne seinen Preis dafür zu zahlen. Gegen Ende habe ich mir auch noch die Gesundheit ruiniert. Aber ich machte Fortschritte. Und schließlich und endlich erfuhr ich die Wahrheit.«
Obwohl nicht die geringste Möglichkeit bestand, daß einer lauschte, beugte er sich vor und flüsterte: »Die Schatulle aus Atlantis enthielt etwas, was ganz zu Anbeginn unserer Welt aus einer anderen Welt hierhergebracht wurde.«
»Was?« fragte Digory. Ganz gegen seinen Willen packte ihn jetzt die Neugierde.
»Nur Staub«, sagte Onkel Andrew. »Feiner, trockener Staub. Sah nicht nach viel aus. Es war nichts, was man für eine lebenslange Schufterei hätte vorzeigen können. Doch als ich den Staub ansah – ich war äußerst achtsam, ihn nicht zu berühren –, da mußte ich daran denken, daß sich jedes Staubkorn einst in einer anderen Welt befunden hatte. Nicht auf einem anderen Planeten, nein, die gehören zu unserer Welt, und zu ihnen kann man gelangen, wenn man nur weit genug fliegt. Nein, in einer ganz anderen Welt, einer anderen Natur, einem anderen Universum, an einem Ort, den man nie erreicht, auch wenn man bis in alle Ewigkeit durch unser Universum reist. In einer Welt, die man nur durch Zauberei erreichen kann!« Hier rieb sich Onkel Andrew die Hände, bis seine Gelenke knackten wie Feuerwerkskörper.
»Mir war klar, daß der Staub die Kraft hatte, einen dorthin zu ziehen, wo er ursprünglich hergekommen ist«, fuhr er fort. »Man mußte ihn nur in die richtige Form bringen. Das war das Problem. Meine früheren Experimente waren Fehlschläge. Ich habe mit Meerschweinchen gearbeitet. Einige starben, andere explodierten wie Bomben…«
»Das war aber schrecklich grausam«, entrüstete sich Digory, der selbst einmal ein Meerschweinchen gehabt hatte.
»Wieso mußt du denn laufend vom Thema ablenken?« fragte Onkel Andrew. »Dafür waren diese Viecher doch da. Ich hatte sie eigenhändig gekauft. Laß mal sehen – wo war ich? Ach ja. Endlich gelang es mir, die Ringe herzustellen: die gelben Ringe. Aber jetzt tauchte ein neues Problem auf. Ich war ziemlich sicher, daß ein gelber Ring jedes Lebewesen, das ihn berührte, zu diesem anderen Ort brachte. Aber wozu sollte das gut sein, wenn ich es nicht zurückholen konnte, damit es mir erzählte, was es dort vorgefunden hatte?«
»Und was war mit den Tieren?« wollte Digory wissen.
»Denen erging es ja ganz schön dreckig, wenn sie nicht zurück konnten!«
»Du betrachtest die Dinge unentwegt vom falschen Standpunkt aus«, sagte Onkel Andrew ungeduldig.
»Verstehst du denn nicht, daß es da um ein bedeutendes Experiment geht? Wenn ich jemand an diesen anderen Ort schicke, dann mache ich das nur deshalb, weil ich wissen will, wie es dort aussieht.«
»Warum bist du denn dann nicht einfach selbst hingereist?«
Digory hatte noch nie erlebt, daß jemand so überrascht und so gekränkt aussah wie sein Onkel Andrew jetzt auf diese einfache Frage hin. »Ich? Ich?« rief er. »Der Junge muß übergeschnappt sein. Ein Mann in meinem Alter, bei meinem Gesundheitszustand, sollte den Schock und die Gefahren riskieren, die auf einen zukommen, wenn man plötzlich in einem anderen Universum landet? So etwas Absurdes habe ich noch nie im Leben gehört! Ist dir klar, was du da sagst? Überleg doch, was das bedeutet – eine andere Welt –, dort kann man doch auf alles mögliche stoßen, auf absolut alles.«
»Und dort hast du vermutlich Polly hingeschickt«, sagte Digory. Er war hochrot vor Zorn. »Auch wenn du mein Onkel bist, kann ich dir nur sagen, daß du dich wie ein Feigling benommen hast, wenn du ein Mädchen irgendwohin schickst, wo du dich selbst nicht hinwagst.«
»Ruhe!« befahl Onkel Andrew und schlug mit der Hand auf den Tisch. »Das lasse ich mir nicht bieten, daß ein schmutziger kleiner Schuljunge so mit mir spricht! Du verstehst das nicht. Ich bin der große Wissenschaftler, der Zauberer, der Meister, der ein Experiment durchführt! Natürlich brauche ich Untergebene, mit denen ich experimentieren kann. Herr im Himmel, als nächstes wirst du mir erklären, ich hätte die Meerschweinchen um Erlaubnis fragen sollen, bevor ich sie benutzte! Große Dinge erreicht man nur, wenn man Opfer bringt. Der Gedanke, ich solle selbst in diese andere Welt reisen, ist wirklich lächerlich. Genausogut könnte man einem großen General befehlen, als gemeiner Soldat zu kämpfen. Angenommen, ich käme ums Leben – was soll dann aus meiner Lebensaufgabe werden?«
»Ach, hör doch auf mit deinem Gequassel!« meinte Digory. »Holst du nun Polly zurück oder nicht?«
»Als du mich unverschämterweise unterbrochen hast, wollte ich dir eben erklären, daß ich schließlich und endlich einen Weg gefunden habe, wie man wieder zurückkehren kann. Die grünen Ringe ziehen einen zurück.«
»Aber Polly hat doch gar keinen grünen Ring dabei!«
»Nein«, bestätigte Onkel Andrew mit einem grausamen Lächeln.
»Wie soll sie denn dann wiederkommen?« rief Digory.
»Da hättest du sie auch gleich umbringen können!«
»Sie kann ja zurück«, erklärte Onkel Andrew, »wenn ihr jemand nachgeht und zwei grüne Ringe mitnimmt: einen für sich selbst, und einen für das Mädchen.«
Jetzt sah Digory natürlich, in welchem Dilemma er steckte. Wortlos und mit weit offenem Mund starrte er seinen Onkel an. Er war totenblaß geworden.
Wie der perfekte Onkel, der seinem Neffen einen guten Ratschlag erteilt, fuhr Onkel Andrew nach einem kleinen Weilchen mit hoher, tragender Stimme fort: »Ich hoffe doch, daß du nicht dazu neigst, dich in derartigen Situationen zu drücken? Es täte mir leid, annehmen zu müssen, daß ein Mitglied unserer Familie nicht genug Ehrgefühl und Ritterlichkeit besitzt, um einer – hm einer Dame in Not zu helfen.«
»Hör bloß auf!« sagte Digory. »Wenn du nur ein Fünkchen Ehrgefühl oder so etwas in der Art hättest, dann würdest du selber gehen. Aber ich weiß, das machst du nicht. Na gut. Mir ist klar, daß ich gehen muß. Aber du bist wirklich ein ekelhafter Kerl. Ich nehme an, du hast das Ganze geplant. Daß sie verschwindet, ohne Bescheid zu wissen, damit ich hinter ihr her muß.«
»Natürlich«, entgegnete Onkel Andrew mit einem abscheulichen Lächeln.
»Na gut. Ich gehe. Aber eines will ich dir noch sagen: Bis heute habe ich nicht an Magie geglaubt. Jetzt sehe ich, daß es sie wirklich gibt. Vermutlich beruhen also auch die ganzen alten Märchen mehr oder weniger auf Wahrheit. Und so wie in diesen Märchen bist du ganz einfach ein böser, grausamer Zauberer. Aber ich habe noch nie ein Märchen gelesen, in dem so jemand wie du nicht am Ende seine gerechte Strafe bekommt. Ich wette, so ist das auch bei dir. Und das geschieht dir ganz recht.«