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Alles, was Digory bis jetzt gesagt hatte, schien Onkel Andrew nicht berührt zu haben. Doch nun zuckte er zusammen, und auf seinem Gesicht lag ein derartiges Entsetzen, daß man fast Mitleid kriegen mußte mit ihm, auch wenn er ein solch gräßlicher Kerl war. Doch schon einen Augenblick später glätteten sich seine Züge wieder, und er sagte mit einem gezwungenen Lachen: »So, so. Daß ein Junge so denkt, ist wohl ganz normal – ein Junge, der wie du unter Frauen aufgewachsen ist. Altweiber­geschichten sind das. Oder? Ich glaube nicht, daß du dir Sorgen zu machen brauchst über die Gefahr, in der ich schwebe. Findest du nicht, du solltest dir eher Sorgen machen, in welcher Gefahr deine kleine Freundin schwebt? Sie ist schon ziemlich lange weg. Wenn an diesem anderen Ort Gefahren drohen – tja, es wäre jammerschade, wenn du ein paar Sekunden zu spät kämst.«

»Dir ist das ja sowieso egal!« gab Digory wütend zurück. »Aber ich habe die Nase voll von deinem Gequassel. Was soll ich tun?«

»Du mußt wirklich lernen, dich zu beherrschen, mein Junge«, gab Onkel Andrew gelassen zurück. »Andernfalls wirst du mal so wie deine Tante Letty. Also paß ganz genau auf.«

Er stand auf, zog ein Paar Handschuhe an und ging hinüber zu dem Tablett mit den Ringen.

»Sie funktionieren nur, wenn sie auch wirklich die Haut berühren. Wenn man Handschuhe trägt, kann man sie anfassen – siehst du? –, ohne daß etwas passiert. Solange du einen in der Tasche hast, geschieht gar nichts: aber natürlich mußt du achtgeben, daß du nicht die Hand in die Tasche steckst und ihn aus Versehen berührst. Sobald du einen gelben Ring anfaßt, verschwindest du aus dieser Welt. Wenn du an diesem anderen Ort bist, dann nehme ich an – das habe ich natürlich noch nicht ausprobiert, aber ich nehme es an –, daß du von dort wieder verschwindest und hierher zurückkehrst, sobald du den grünen Ring berührst. Nehme ich jedenfalls an. Also. Ich stecke dir jetzt die beiden grünen Ringe in die rechte Hosentasche. Merke dir gut, in welcher Tasche sie sind. G für Grün, R für rechts. G. R.: die ersten beiden Buchstaben von grün. Einen für dich, einen für das kleine Mädchen. Und jetzt nimmst du dir noch einen gelben. An deiner Stelle würde ich ihn an den Finger stecken, sonst läßt du ihn vielleicht noch fallen.«

Digory wollte gerade gehorchen, doch dann zog er die Hand noch einmal zurück.

»Und was ist mit meiner Mutter? Was ist, wenn sie nach mir fragt?« ,Je schneller du verschwindest, desto schneller bist du wieder hier«, erklärte Onkel Andrew munter.

»Aber du weißt doch gar nicht genau, ob ich wiederkomme!«

Onkel Andrew zuckte die Achseln, ging zur Tür, öffnete sie weit und sagte: »Na gut. Ganz wie du willst. Geh nach unten und iß. Soll das kleine Mädchen doch von wilden Tieren aufgefressen werden oder ertrinken, oder verhungern in dieser anderen Welt, oder für immer dort verlorengehen, sofern dir das lieber ist. Mir ist es egal. Vor dem Nachmittagstee solltest du vielleicht Mrs. Plummer einen Besuch abstatten und ihr erklären, daß sie ihre Tochter nie mehr wiedersieht. Und zwar deshalb, weil du zu feige warst, einen Ring anzustecken.«

»Herr im Himmel!« seufzte Digory. »Wäre ich doch nur groß genug, damit ich dir eins in die Rübe knallen könnte!«

Dann knöpfte er seine Jacke zu, atmete tief ein und nahm den Ring. Mir bleibt ja wohl gar nichts anderes übrig, dachte er dabei.

DER WALD ZWISCHEN DEN WELTEN

Onkel Andrew und sein Arbeitszimmer verschwan­den auf der Stelle. Einen Augenblick lang ver­schwamm alles. Das erste, was Digory bemerkte, war ein sanftes grünes Licht, das von oben auf ihn herabfiel. Unter ihm war alles dunkel. Er stand nicht, saß nicht, lag nicht – nein, er schien frei zu schweben, ohne etwas zu berühren. Ich glaube, ich bin im Wasser, sagte sich Digory. Vielmehr unter Wasser. Einen Moment lang bekam er Angst, doch dann spürte er, daß er aufwärts­schoß. Er durchbrach mit dem Kopf die Wasser­oberfläche und kletterte auf das glatte, grasbewachsene Ufer eines kleinen Teichs.

Beim Aufstehen stellte er fest, daß er gar nicht naß war.

Er mußte auch nicht nach Luft japsen, so wie das ja eigentlich normal ist, wenn man eben aus dem Wasser auftaucht.

Er stand im Wald, am Rand eines winzigen Teichs, kaum drei Meter im Durchmesser. Die Bäume standen dicht an dicht, und sie waren so belaubt, daß er kein einzi­ges Himmelsfleckchen sehen konnte. Das durch das Laub­werk hereinfallende Licht war vollkommen grün. Eine äußerst starke Sonne mußte über den Bäumen stehen, denn das grüne Licht strahlte und wärmte. Es war der stillste Wald, den man sich überhaupt vorstellen kann. Es gab keine Vögel, keine Insekten, kein sonstiges Getier und keinen Wind. Fast konnte man spüren, wie die Bäume wuchsen.

Der Teich, aus dem Digory eben geklettert war, war nicht der einzige. Soweit das Auge reichte, lagen dicht nebeneinander noch weitere Teiche. Fast meinte man zu fühlen, wie die Bäume mit ihren Wurzeln das Wasser aufsogen.

Ein ausgesprochen lebendiger Wald war es. Wenn Digory ihn später zu beschreiben versuchte, dann sagte er immer: Es war ein üppiger Ort, so üppig wie Pflaumen­kuchen.

Das Eigenartigste war, daß Digory schon fast vergessen hatte, wie er hierhergekommen war, noch bevor er sich recht umschaute. Jedenfalls dachte er keineswegs an Polly oder an seinen Onkel – ja nicht einmal an seine Mutter. Kein bißchen Angst hatte er, und aufgeregt oder neugierig war er auch nicht. Wenn ihn einer gefragt hätte: »Wo kommst du her?« hätte er wohl geantwortet: »Ich war schon immer hier.« Und so kam es ihm auch vor – als wäre er schon immer an diesem Ort gewesen und hätte noch nie Langeweile verspürt, obwohl nie etwas passierte.

Lange danach sagte er: »Es war kein Ort, an dem etwas geschieht. Die Bäume wachsen, und das ist alles.«

Nachdem Digory den Wald lange betrachtet hatte, entdeckte er, daß ein paar Schritte weiter am Fuß eines Baumes ein Mädchen lag. Ihre Augen hatte sie ein winziges bißchen geöffnet, so als wäre sie gerade eben am Aufwachen. Lange schaute er sie schweigend an. Schließlich öffnete sie die Augen ganz. Auch sie sah ihn lange an, und auch sie schwieg. Doch dann sagte sie mit einer Stimme, die ganz verträumt und glücklich klang: »Mir scheint, ich hab’ dich schon mal gesehen.«

»Ich dich auch, glaube ich«, antwortete Digory. »Bist du schon lange hier?«

»Oh, schon immer«, sagte das Mädchen. »Auf jeden Fall schon – ich weiß nicht – sehr lange.«

»Ich auch.«

»Das stimmt nicht«, widersprach das Mädchen. »Ich habe dich eben erst aus dem Teich klettern sehen.«

»Vermutlich hast du recht«, sagte Digory. Er sah ziemlich verwirrt aus. »Das hatte ich vergessen.«

Lange Zeit schwiegen beide.

»Hör mal«, sagte das Mädchen nach einem Weilchen.

»Meinst du, wir haben uns wirklich schon mal getroffen? Mir kam eben so was wie ein Bild in den Sinn, von einem Jungen und einem Mädchen – so wie wir –, die irgendwo lebten, wo alles ganz anders war. Und die beiden machten alles mögliche zusammen. Aber vielleicht war es nur ein Traum.«

»Ich hatte den gleichen Traum, glaube ich«, sagte Digory. »Von einem Mädchen und einem Jungen, die nebeneinander wohnten, und sie kletterten auf Balken herum oder so. Ich weiß noch, das Mädchen hatte ein ganz schmutziges Gesicht.«

»Das mußt du verwechseln! In meinem Traum hatte der Junge ein schmutziges Gesicht.«

»An das Gesicht des Jungen erinnere ich mich nicht«, sagte Digory. Dann fügte er hinzu: »He! Was ist denn das?«