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»Komm, wir gehen nach Hause«, schlug Polly vor.

»Wir haben doch noch gar nichts gesehen!« protestierte Digory.

»Wenn wir schon mal da sind, dann müssen wir uns auch umsehen.«

»Ich bin sicher, hier gibt es überhaupt nichts Interessantes zu sehen.«

»Welchen Sinn hat es denn, wenn man einen Zauberring findet, der einem den Zutritt zu anderen Welten verschafft, wenn man dann aber Angst davor hat, sie anzuschauen?«

»Wer hat hier was von Angst gesagt?« fragte Polly und ließ Digorys Hand los.

»Ich dachte nur, weil du offensichtlich keine große Lust hast, dich hier umzuschauen.«

»Ich gehe überall hin, wo du hingehst.«

»Wir können ja jederzeit wieder von hier verschwin­den«, sagte Digory.

»Wir streifen jetzt die grünen Ringe ab und stecken sie in unsere rechte Tasche. Wir dürfen nur nicht vergessen, daß wir die gelben in der linken Tasche haben. Du kannst deine Hand so nah an deiner Tasche lassen, wie du nur willst, nur hineinstecken darfst du sie nicht. Sonst berührst du den Ring, und dann bist du weg.«

Also streiften sie ihre Ringe ab und gingen zu einem großen Torbogen, der in ein Gebäude führte. Als sie von der Schwelle aus nach drinnen schauten, sahen sie, daß es dort gar nicht so düster war, wie sie zuerst gedacht hatten.

Die Tür führte in eine weitläufige, schattige Halle, die leer zu sein schien. Gegenüber, am anderen Ende der Halle, stand eine Säulenreihe, durchbrochen von Rundbögen, durch die das eigenartig träge wirkende Licht hereinfiel. Ganz vorsichtig, weil der Fußboden ja vielleicht schadhaft war oder weil Dinge herumliegen mochten, über die man stolpern konnte, durchquerten Polly und Digory die Halle. Der Weg kam ihnen endlos lang vor.

Am anderen Ende angelangt, traten sie durch einen Rundbogen hinaus und standen auf einem noch größeren Hof.

»Das sieht ja ziemlich gefährlich aus«, meinte Polly und deutete auf eine Mauer, die sich nach außen wölbte und geradeso aussah, als könne sie jeden Moment einstürzen. An einer Stelle fehlte ein Pfeiler zwischen zwei Rundbögen, und dort, wo sich die beiden Bögen trafen und wo der Pfeiler hätte stehen müssen, hingen die Steine frei in der Luft. Ganz offensichtlich war der Ort hier seit Hunderten, ja vielleicht seit Tausenden von Jahren unbewohnt.

»Wenn es bis jetzt gehalten hat, dann wird es vermutlich nicht ausgerechnet jetzt zusammenbrechen«, sagte Digory. »Aber wir müssen uns ganz still verhalten. Weißt du – manchmal kann ein Geräusch der auslösende Faktor sein – wie bei einer Lawine in den Alpen.«

Sie verließen den Hof und traten durch eine andere Tür, kletterten eine riesige Treppe empor, durchschritten weite Hallen, eine nach der anderen, bis ihnen ganz schwindlig wurde von den riesigen Ausmaßen dieser Bauwerke. Von Zeit zu Zeit dachten sie, jetzt müßten sie gleich hinausgelangen ins Freie und sehen, was für eine Art Landschaft diesen riesigen Palast umgab, doch jedesmal gelangten sie lediglich auf den nächsten Hof. Wunderschön mußten diese Gebäude gewesen sein, damals, als hier noch Leute gelebt hatten. In einem entdeckten sie einen ehemaligen Springbrunnen. Da stand ein riesiges Monstrum mit weit ausgebreiteten Schwingen, in dessen offenem Maul man noch ein Stückchen von dem Rohr sehen konnte, aus dem früher das Wasser geflossen sein mußte. Darunter gab es ein großes, steinernes Becken, in dem einst das Wasser aufgefangen worden war. Doch jetzt war es völlig ausgetrocknet. An einer anderen Stelle fanden sie die verdorrten Überreste einer Kletterpflanze, die sich um die Pfeiler gewunden und mit dazu beigetragen hatte, daß diese eingestürzt war. Jetzt war sie allerdings seit langem verdorrt. Keine einzige Ameise war zu sehen, keine Spinne und auch kein anderes Getier, das man sonst in verlassenen Gemäuern findet. Und an den Stellen, wo man zwischen den zerbrochenen Steinen die nackte Erde sah, wuchs weder Gras noch Moos. Alles wirkte so trostlos und so gleichförmig, daß sich sogar Digory Gedanken machte, ob sie nicht besser die gelben Ringe anstecken sollten, um in den warmen, lebendigen Wald zwischen den Welten zurückzukehren. Doch da kamen sie vor zwei riesigen Metalltüren an, die so aussahen, als bestünden sie aus Gold. Eine der beiden Türen war nicht ganz geschlossen, und so warfen sie einen Blick hinein. Beide fuhren zurück und japsten nach Luft: Hier gab es endlich etwas zu sehen.

Einen Augenblick lang dachten sie, der Raum sei voll mit Menschen – da saßen Hunderte von Gestalten, und keine rührte sich. Wie ihr euch denken könnt, rührten sich auch Polly und Digory nicht. Lange standen sie und starrten. Doch nach einem Weilchen wurde ihnen klar, daß das keine richtigen Menschen sein konnten, denn alle saßen absolut regungslos und ohne zu atmen. Sie sahen aus wie die schönsten Wachsfiguren, die ihr jemals gesehen habt.

Diesmal ging Polly voraus, denn hier gab es etwas, was ihr Interesse erweckte, mehr als das bei Digory der Fall war. All diese Gestalten trugen nämlich die wunderbarsten Gewänder. Wenn man sich auch nur ein klein bißchen für Kleider interessierte, dann mußte man einfach näher hingehen und sie genauer betrachten. Zwar wirkte der Raum nicht gerade freundlich, auch wenn die Gewänder so herrlich bunt waren, aber wenigstens wirkte er reich und majestätisch, nach all dem Staub und der Verlassenheit des Vorherigen. Mehr Fenster gab es hier auch, und dadurch viel mehr Licht.

Die Gewänder und die Kronen waren so prächtig, man kann es kaum beschreiben. Blutrot, silbergrau, strahlend grün und purpurn waren die Stoffe, manche mit Mustern, andere über und über mit Blumen und eigenartigem Getier bestickt. Von den Kronen blitzten riesige, kostbare Edelsteine, am Hals funkelte das Geschmeide, und die Gewänder wurden von blitzenden Spangen gehalten.

»Warum sind die Gewänder denn nicht schon längst vermodert?« fragte Polly.

»Spürst du nicht die Zauberkraft?« wisperte Digory.

»Ich möchte wetten, der ganze Raum strotzt vor Zauberkraft. Das habe ich sofort gespürt, als wir reinkamen.«

»Jedes einzelne von diesen Gewändern ist ein paar hundert Pfund wert«, meinte Polly.

Aber Digory interessierte sich dagegen eher für die Gesichter, und die waren auch wirklich betrachtenswert. Zu beiden Seiten der Halle saßen die Gestalten auf steinernen Stühlen, und wenn man durch den Gang in der Mitte lief, konnte man sich jedes Gesicht der Reihe nach ansehen.

»Ich glaube, diese Leute hier waren ganz nett«, meinte Digory.

Polly nickte. Die Gesichter, die sie bisher betrachtet hatten, waren wirklich nicht schlecht. Die Männer und die Frauen sahen freundlich aus und klug. Außerdem hatten sie sehr schöne Gesichtszüge. Doch ein paar Stufen tiefer veränderte sich das Bild. Die Gesichter der Leute, die hier saßen, waren ausgesprochen ernsthaft und feierlich, und die beiden Kinder wußten, sie müßten ihre Zunge im Zaum halten, sollten sie jemals einen wirklichen Menschen treffen, der so aussah wie die hier. Noch ein Stückchen weiter, etwa zur Mitte der Halle hin, stießen sie auf Gesichter, die ihnen gar nicht gefielen. Mächtige Gesichter waren das, stolz und glücklich, aber voller Grausamkeit. Und sie wurden noch grausamer, je weiter die beiden kamen. Bald darauf war jegliches Glück von den Gesichtern verschwunden, nur noch grausam und voller Verzweiflung waren sie, als hätten die Leute, denen diese Gesichter gehörten, Schreckliches vollbracht und Schreck­liches erlitten. Die letzte Gestalt war am aller interessan­testen. Eine Frau war es, noch üppiger bekleidet als die anderen, noch größer auch, dabei waren alle hier sowieso schon wesentlich größer als die Menschen unserer Welt. Und in dem Gesicht dieser Frau lag eine solche Wildheit und ein solcher Stolz, daß es einem den Atem nahm. Dennoch war sie schön. Viele Jahre später, als Digory schon ein alter Mann war, sagte er, solch eine schöne Frau hätte er nie mehr gesehen. Doch der Gerechtigkeit halber muß ich hinzufügen, daß Polly immer behauptete, sie hätte die Frau gar nicht so besonders schön gefunden.