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Wie gesagt, diese Frau war die letzte in der Reihe. Neben ihr standen noch viele leere Stühle, als wäre der Raum dazu bestimmt gewesen, noch vielen von diesen Gestalten Platz zu bieten.

»Ich möchte bloß wissen, was hinter dieser ganzen Sache steckt«, sagte Digory. »Komm, wir gehen zurück zu dem tischähnlichen Gebilde.«

Das, was da in der Mitte der Halle stand, war eigentlich kein Tisch. Es war eine viereckige, ungefähr ein Meter zwanzig hohe Säule, über der sich ein kleiner goldener Rundbogen erhob, mit einem goldenen Glöckchen daran.

Daneben lag ein goldenes Hämmerchen.

»Wenn ich nur wüßte… wenn ich nur wüßte…« überlegte Digory.

»Hier scheint etwas eingraviert zu sein«, bemerkte Polly. Sie beugte sich nieder und betrachtete den Pfeiler.

»Heiliger Bimbam! Du hast recht!« sagte Digory.

»Aber natürlich können wir es nicht lesen.«

»Meinst du? Vielleicht doch!« Polly war anderer Meinung.

Beide starrten. Tatsächlich sahen die in den Stein gehauenen Schriftzeichen äußerst eigenartig aus. Doch da geschah ein großes Wunder. Während sie starrten, merkten sie, daß ihnen die Bedeutung der Zeichen langsam klar wurde, obwohl sich die Zeichen selbst nicht veränderten. Wenn nur Digory sich noch an seinen Ausspruch von vorhin erinnert hätte, dies sei ein verzauberter Raum, dann hätte er sich denken können, daß der Zauber jetzt langsam zu wirken begann. Aber er war so von seiner Neugier gefangengenommen, daß er daran gar nicht dachte. Er wollte unbedingt wissen, was da auf der Säule stand. Und schon bald darauf erfuhren sie es alle beide.

Zwar kann man die Worte, die in der Halle zu lesen waren, nicht wirklich wiedergeben, aber sinngemäß lautete der Spruch etwa so:

Schlag die Glocke, ruf die Gefahr,

Oder schlag sie nicht, doch dann fürwahr

Wirst du dich bis zum Wahnsinn fragen,

Was geschehn wäre, hättst du sie geschlagen.

»Auf Gefahr können wir verzichten. Das steht fest«, sagte Polly.

»Polly! Verstehst du denn nicht? Wir können doch jetzt nicht mehr zurück!« protestierte Digory. »Sonst fragen wir uns bis in alle Ewigkeit, was wohl passiert wäre, wenn wir geläutet hätten. Ich will nicht nach Hause zurück und Wahnsinnigwerden, nur weil ich an nichts anderes mehr denken kann. Das steht ebenfalls fest!«

»Jetzt red doch keinen solchen Mist!« schimpfte Polly. »Weshalb sollst du denn wahnsinnig werden? Es kann uns doch völlig egal sein, was passiert wäre, wenn…«

»Ich glaube, wenn man erst mal so weit gekommen ist wie wir, dann muß man anschließend so lange darüber nachdenken, bis man tatsächlich wahnsinnig wird. Das ist die Zauberei dabei. Ich merke es, bei mir wirkt sie schon langsam.«

»Ich spüre nichts!« Polly war böse. »Und ich glaube auch nicht, daß es bei dir wirkt. Ich glaube, daß du nur so tust.«

»Das sagst du«, sagte Digory. »Das kommt daher, weil du ein Mädchen bist. Mädchen interessieren sich für gar nichts, höchstens für Klatsch und Tratsch. Wer sich mit wem verlobt hat und so.«

»Wenn du so redest, machst du das gleiche Gesicht wie dein Onkel Andrew«, sagte Polly.

»Warum bleibst du nicht beim Thema?« wollte Digory wissen. »Wir haben darüber gesprochen…«

»Typisch Mann«, erklärte Polly, und sie klang ziemlich erwachsen dabei. Doch dann fügte sie rasch mit ihrer eigenen Stimme hinzu: »Und jetzt sag bloß nicht, ›typisch Frau‹! Das wäre wirklich gemein!«

»Fiele mir nicht im Traum ein. So eine Göre wie dich soll ich Frau nennen?« fragte Digory herablassend.

»So? Eine Göre bin ich also?« gab Polly zurück. Jetzt wurde sie wirklich wütend. »Na gut! Ich will nicht, daß du dich weiterhin mit einer Göre abgeben mußt: Ich verschwinde. Ich habe genug von diesem Ort hier. Und von dir auch – du ekelhafter, arroganter, eigensinniger Kerl!«

»Kommt nicht in Frage!« sagte Digory, und seine Stimme klang noch ekelhafter, als er eigentlich beabsich­tigte. Er hatte nämlich gesehen, daß Polly die Hand in die Tasche stecken wollte, um den gelben Ring anzustecken.

Eigentlich gibt es keine Entschuldigung für das, was er jetzt tat. Höchstens könnte man anführen, daß es ihm später sehr leid tat. Und nicht nur ihm allein. Bevor Polly in die Tasche greifen konnte, packte er sie am Handgelenk, wehrte mit seinem anderen Ellbogen ihren anderen Arm ab, beugte sich vor, nahm das Hämmerchen und schlug damit leicht gegen die goldene Glocke. Erst dann ließ er Polly wieder los. Atemlos standen sie sich über und starrten sich an. Polly begann zu weinen. Nicht aus Furcht und auch nicht deshalb, weil ihr Handgelenk ziemlich weh tat, nein, sie weinte vor Wut. Doch schon ein paar Sekunden später passierte etwas, was sie ihren Streit total vergessen ließ.

Als Digory die Glocke berührte, erklang ein süßer, sanfter Ton. Doch dieser Ton verklang nicht – nein, er wurde immer lauter und lauter. Nicht mal eine Minute war vergangen, da war er schon doppelt so laut wie am Anfang. Und gleich darauf war er schon so laut, daß die Kinder sich nicht mehr hätten hören können, hätte einer von ihnen etwas sagen wollen. Aber die beiden standen ohnehin nur da und rissen den Mund auf. Kurz darauf hätten sie sich nicht einmal mehr schreiend verständigen können, und dabei wurde es immer noch lauter und lauter. Nur dieser eine fortwährende, süße Ton war zu hören der gleichwohl etwas Schreckliches an sich hatte.

Schließlich pulsierte die ganze Luft in der riesigen Halle, und unter ihren Füßen bebte der Steinfußboden. Schließlich gesellte sich noch ein weiterer Klang hinzu: ein unbestimmtes, unheilverkündendes Brausen. Zuerst hörte es sich an wie das Donnern eines in der Ferne vorbei­fahrenden Zuges, dann klang es, als stürze irgendwo ein Baum um, und dann hörten sie, wie irgendwo irgend etwas Schweres herunterfiel. Mit einem plötzlichen Donnerschlag und mit einem Beben, das die beiden fast umwarf, stürzte ein Teil der Decke ein. Riesige Steinblöcke fielen herab, die Wände wankten. Die Glocke verstummte, die Staub­wolken setzten sich, und alles wurde wieder still.

Ob die Decke nun durch Zauberkraft eingestürzt war oder ob es der unvorstellbar laute Ton der Glocke gewesen war, der den baufälligen Mauern den Rest gegeben hatte, das war nie festzustellen.

»So! Ich hoffe, jetzt bist du zufrieden!« keuchte Polly.

»Na ja, jetzt ist ja alles vorbei«, entgegnete Digory.

Der Meinung waren sie alle beide. Aber da irrten sie sich ganz gewaltig.

DAS UNAUSSPRECHLICHE WORT

Die Kinder standen einander auf beiden Seiten des Glöckchens gegenüber. Zwar schwieg es jetzt, doch es vibrierte noch immer. Plötzlich hörten sie vom anderen Ende der Halle her, von dort, wo sie noch unbeschädigt stand, ein leises Geräusch. Blitzschnell drehten die beiden sich um. Eine der prächtig gekleideten Gestalten erhob sich gerade aus ihrem Stuhl.

Die Frau am Ende der Reihe war es, die Digory so wunderschön gefunden hatte. Als sie aufrecht stand, da sahen Polly und Digory, daß sie sogar noch größer war, als sie gedacht hatten. Nicht nur an ihrer Krone und ihren Gewändern, sondern auch am Blitzen ihrer Augen und an der Linie ihres Mundes konnte man sofort ablesen, daß sie eine mächtige Königin sein mußte. Sie schaute sich in der halb eingestürzten Halle um, dann fiel ihr Blick auf die Kinder. Doch ihr Gesicht blieb unbewegt, und es zeigte keinerlei Überraschung. Mit weit ausholenden, raschen Schritten kam sie näher.