Brunhild nahm den silbernen Schmuck entgegen und legte ihn sich um die Taille.
»Danke«, flüsterte sie, während sie die beiden Spiralen ineinanderschlang.
Die Nebel hatten sich gelichtet. Die zarten Schleier waren vom Wind höher hinauf in den Himmel getrieben worden, wo sie ein dichtes Wolkenband knüpften.
Brunhild schaute über den Stein hinweg auf das jenseitige Ufer. Fremde Reiter galoppierten auf der anderen Seite des Sees entlang und schossen immer noch mit Pfeilen auf die Priesterinnen. Ramee stützte sich auf Brunhilds Arm und beobachtete ebenfalls das andere Ufer.
»Eines mußt du noch wissen. Der Rubin, den Mirka für dich getragen hat, ist wahrscheinlich verlorengegangen. Du wirst ihn zurückerobern müssen.« Ramee schaute Brunhild ernst an. »Schwöre bei der Heiligkeit unserer Göttin, daß du nicht eher ruhst, bis du den Stein des alten Volkes wieder in den Händen halten wirst. Seine Gabe ist es, deine magische Kraft noch zu verstärken. Mit seiner Hilfe werden die Wirkungen der Zauberlieder vollständiger in dieser Welt umgesetzt. Er ist ein Teil des Lichtes unserer Göttin. Wenn die dunkle Macht ihn in ihren Händen hält, kann es für uns alle das Ende bedeuten!«
»Wieso glaubst du, daß er verlorenging?« fragte Brunhild, während sie die Reiter am anderen Ufer nicht aus den Augen ließ.
»Deswegen!« Die Alte deutete auf die Krieger, die sich gerüstet hatten, die Priesterinnen der weißen Göttin mit den Schwertern anzugreifen.
»Allein, daß die Fremden in den magischen Ring, der rund um den Garten und den Wasserfall herumliegt, eindringen konnten, beweist, daß jemand entweder unsere Zauberlieder kennt und das magische Band zerstört hat oder daß jemand den Rubin dazu benutzt, seine Macht zu erhöhen, die ihm erlaubt, hier einzudringen. Mirka hätte den Stein freiwillig niemals zu einer solchen Freveltat hergegeben!«
»Glaubst du, Pyros, der Flammenmagier, ist zurückgekehrt?« fragte Brunhild, die sich plötzlich an jene längst vergangene Nacht erinnerte, als der Magier in den Garten eingedrungen war. Der ganze Wasserfall und der See hatten damals gebrannt, und es hatte lange Zeit so ausgesehen, als ob Pyros den Zaubergarten der Gwenyar vernichten würde.
Ramee blickte sich um. »Nein«, sagte sie. »Das ist nicht das Werk eines Flammenmagiers. Wenn Pyros wirklich noch lebt und wenn er die Kraft hätte, zurückzukommen, dann wäre es gewiß nicht sein Stil, aus dem Hinterhalt mit Pfeilen und Bogen bei Morgengrauen aufzutauchen. Seine Kraft ist das Feuer. Er bräuchte keine Söldner!«
Aus dem gegenüberliegenden Wald galoppierte auf einer weißen Stute eine Frau heraus und lenkte das schnaubende Tier bis an den Rand des Ufers. Die Frau trug ein feuerrotes Gewand, das nur von einem schwarzen Samtumhang bedeckt wurde, der ihr von den Schultern an über den Rücken fiel. Ihr rotblondes Haar flog offen im Wind, und auf ihrem hellen, fast durchscheinenden Gesicht lag ein triumphierendes Lächeln.
Ramee blinzelte, kniff ihre Augen zusammen, um besser sehen zu können, und seufzte, als sie die Frau erkannte.
»Inmee«, sagte sie. »Ich hätte es wissen müssen!« Erschöpft sank sie wieder hinter den Stein. »Und ich bin verwundet! Es wird ein schwerer Kampf.«
»Ich kenne diese Frau!« rief Brunhild.
Ramee nickte. »Natürlich kennst du sie. Sie war lange eine Priesterin unseres Ordens. Am Tag, als deine Mutter starb, wurde sie in der alten Flammenburg durch einen Ritter schwer verwundet. Deine Mutter gab ihr eigenes Leben, um sie zu heilen, doch Inmees Geist wurde niemals wieder frei von der Vorstellung, sie sei, da Luovana ihretwegen starb, die rechtmäßige Hüterin des Feuers. Zwar hat sie noch acht oder zehn lange Sommer hier gelebt, doch sie tat sich schwer damit, der Göttin zu dienen. Als Mirka dich in den Tempel holte, um dich alles zu lehren, was die Hüterin des Feuers wissen muß, versuchte Inmee immer wieder, diese Unterweisungen zu verhindern, bis sie schließlich aus freien Stücken fortging. Ihr Weg führte sie sehr bald zur dunklen Göttin.« Die Alte hielt einen Augenblick inne. »Ich habe geahnt, daß sie eines Tages wiederkehrt!«
Ramee schaute auf Brunhild, die fasziniert von der Schönheit dieser Frau den Blick nicht wenden konnte.
»Es ist ein Trugbild. Laß dich nicht täuschen. Lerne die Wirklichkeit zu sehen, nicht nur den Schein! Du bist nun eine geweihte Priesterin!«
Brunhild schloß für einen Herzschlag lang ihre Lider, doch immer noch stand das Bild der anderen Frau vor ihr. Es war, als hätte es sich in ihr eingebrannt.
»Was soll ich tun?« fragte sie. Inmees Stärke beeindruckte sie.
»Das Schicksal hat seinen Sinn! Du wirst vollenden, was deine Mutter begann! Aber eines solltest du beachten, wenn du den Kampf mit der Hohenpriesterin der schwarzen Göttin beginnst, denn nichts anders ist Inmee jetzt. Hüte dich vor ihren Liedern! Diese Frau ist mächtiger, als du es dir vielleicht vorstellen kannst. Sie war eine von uns, und sie weiß uns zu schaden, wenn sie gegen uns kämpft!«
»Sie ist die Hohepriesterin der schwarzen Göttin? Woher weißt du das?«
»Sie trägt das Blutgewand, das nur der Priesterin zusteht, die der Göttin ihr Herz versprach und auch ihren Leib geopfert hat. Dieses Gewand ist ein Zeichen dafür, daß sie die mächtigste Dienerin der schwarzen Göttin ist. Zuletzt hat deine Tante Lursa dieses Kleid getragen!« sagte Ramee.
»Wenn sie die mächtigste Frau ihres Ordens ist, warum kämpft sie dann noch? Was will sie noch mehr?« fragte Brunhild.
»Sie ist rastlos und unzufrieden wie ihre Göttin«, antwortete die Alte. »Und das zwingt sie dazu, immer weiter zu opfern und zu morden. Erst wenn sie alles zerstört hat, wird sie Ruhe finden. Sie ist gefährlich, denn sie liebt nichts, am wenigstens sich selbst!« Sie zögerte. »Vielleicht will sie an uns Rache nehmen für die Schmach, daß wir sie nicht zur Hüterin des Feuers weihten.«
Brunhild sah, wie Inmee die Zügel ihres Pferdes losließ und ihre Hände in die Luft erhob. Für einen Augenblick sah es aus, als schwebten die Finger über dem nahen See. Doch die junge Kriegerin bemerkte, daß Inmees Hände nach unten auf das Wasser zeigten. Bei Mirka hatte sie diese Geste stets nur mit nach oben offenen Handflächen gesehen.
Das Klirren von Schwertern wurde lauter. Die Männer drängten die Priesterinnen wieder zurück, die den jenseitigen Uferrand des Sees gestürmt hatten. Das Kampfgeschehen kam näher. Irgendwo schrie einer der Krieger schmerzverzerrt auf.
Brunhilds Herz schlug ein wenig schneller.
»Ramee, schau, sie trägt den Rubin!« Sie hatte das Schmuckstück am Hals der Priesterin entdeckt.
»Ich dachte es mir.« Die Alte senkte einen Herzschlag lang die Augen. »Du mußt ihn zurückholen, doch ich sage es noch einmal, hüte dich vor ihren Liedern. Du wirst manche Verse davon wiedererkennen, doch sie werden anders klingen, als du gewohnt bist, und auch ihre Wirkung wird anders sein!«
Brunhild fragte sich, wie sie eine andere Priesterin hindern sollte, zu singen, besonders, wenn sie eine Hohepriesterin der schwarzen Göttin war.
»Du wirst nun alleine deinen Weg gehen müssen«, sagte die Alte. Es klang fast, als nähme sie Abschied von Brunhild. Sie segnete die junge Kriegerin noch einmal. »Vergiß niemals, daß du die wahre Hüterin des Feuers bist!«
»Und was wird aus Arma und Mirka?« fragte Brunhild.
Die Priesterin griff für einen Augenblick nach ihren Händen. Brunhild spürte den weichen Druck. »Dies, mein Kind, ist nicht deine Aufgabe. Jedenfalls nicht jetzt! Die Göttin wird für sie sorgen!« Dann ließ die Alte Brunhild los und wandte ihre Aufmerksamkeit Inmee und dem Kampfgeschehen zu. »Und ich werde nun mein Volk beschützen, so gut ich es vermag«, fügte sie leise hinzu.
Brunhild sah aus den Augenwinkeln einen Krieger mit blankem Stahl im scharfen Galopp auf sich zureiten. Der Mann war an den Priesterinnen vorbeigeprescht und hielt auf sie zu.