»Sie hat noch zur Göttin gebetet!« sagte sie leise. Zärtlich fuhr sie mit dem Finger durch die Furchen der steinernen Hand, als könne sie ihre alte Gefährtin damit wieder lebendig machen. Fragend blickte sie auf Raban. »Was ist hier geschehen?«
»Sieht aus, als habe diese fremde Priesterin mit ihren schwarzen Blitzen den Garten völlig verflucht«, bemerkte Raban und hob einen Stein vom Boden auf. Unschlüssig drehte er ihn zwischen den Fingern, dann warf er ihn weg.
Brunhild blickte suchend zum anderen Ufer hinüber. Die schwarze Priesterin war fort.
»Hattet Ihr gehofft, sie habe sich selbst mit zu Stein verwandelt?« fragte Raban, der ihrem Blick gefolgt war.
Brunhild zuckte mit den Schultern. »Vielleicht...« Sie schüttelte unwillig den Kopf. Das ist unsinnig, dachte sie.
Langsam löste sie sich von Ramee und stand auf. Es half nichts, wenn sie hier kniete.
Ein paar Schritte von der alten Priesterin entfernt lag auf einem kleinen Geröllhaufen das Schwert, das Raban ihr aus der Hand geschlagen hatte. Die junge Kriegerin hob es auf.
»Damit dürfte es Euch schwerfallen, mich zu durchbohren«, sagte Raban, als er nach einer Weile zu ihr trat. Er tippte vorsichtig mit dem Finger an die graue Waffe. »Es ist nicht mehr sehr scharf.«
Brunhild betrachtete die Klinge, dann ließ sie das Schwert achtlos wieder zu Boden fallen. Mit einem dumpfen Ton schlug die versteinerte Waffe auf den Geröllboden auf und zersprang dabei in einzelne Brocken. Entsetzt blickte Brunhild auf die Überreste ihres Schwertes, dann schaute sie auf die versteinerten Gefährtinnen, schließlich auf Ramee. »Sie sind zerbrechlich«, sagte sie. »Alle! Wir müssen vorsichtig sein!«
»Glaubt Ihr, daß dies noch von Bedeutung ist?« fragte Raban und betrachtete eine erstarrte Priesterin, die unweit von ihnen stand und ihr Schwert zum Kampf gegen einen ebenfalls zu Stein gewordenen Krieger erhoben hatte. Dabei hielt die Frau ihre Waffe in der rechten Hand, so daß ihr Zeigefinger ein wenig hervorragte. Raban befühlte den kalten, glatten Finger und war einen Augenblick lang versucht, ihn abzubrechen, um zu prüfen, ob er wirklich so rasch auseinanderbrach wie Brunhilds Schwert, doch dann ließ er es.
»Wie kommt Ihr darauf, daß es nicht mehr von Bedeutung sein könnte?« fragte Brunhild.
»Nun, schließlich sind sie tot, oder etwa nicht?«
Die junge Kriegerin wirbelte herum. Zornig stemmte sie die Hände in die Hüften. »Was ist das für eine Narretei, die Ihr da von Euch gebt? Natürlich sind sie nicht tot. Wenn Mirka und Arma zurückkehren, werden sie gewiß eine Möglichkeit finden, diesen schwarzen Fluch wieder aufzuheben, um alle hier«, sie machte eine umfassende Geste, »samt des Gartens wieder zu verwandeln.«
Raban trat einen Schritt näher auf Brunhild zu. Auf seiner Stirn hatte sich eine steile Falte gebildet. »Brunhild, haltet ein. Eure Hoffnung ist vergebens!« Sanft berührte er ihren Arm. »Ich dachte, Ihr wüßtet es. Mirka und Arma sind tot!«
»Mirka und Arma? Woher wollt Ihr das wissen?« Brunhild fühlte, wie ihre Knie zu zittern begannen. Langsam zog Raban sie in seine Arme, und für einen Augenblick ließ sie es willig geschehen.
»Ich sah es heute früh bei den Kriegern im Lager. Arma lag verwundet im Zelt des Anführers, auch Mirka war ohnmächtig. Die schwarze Priesterin hat beide getötet, bevor sie mit den Männern losritt, um den Wasserfall anzugreifen.«
»Warum habt Ihr nicht versucht, sie zu retten?«
Raban zögerte einen Augenblick. »Ich wollte Euch vor dem Überfall warnen, doch ich kam zu spät. Die Priesterin war schneller, der Kampf hatte bereits begonnen. Als ich Euch mit einem der Krieger fechten sah und gleichzeitig den Fluch hörte, den die schwarze Priesterin sang, dachte ich nur an diesen heiligen See und daran, daß er uns vielleicht vor dem Zorn dieses Dämonenweibes schützen könnte.«
Brunhild löste sich von dem jungen Mann und ließ sich benommen auf einem der Steine nieder. »Und Ihr seid sicher, daß sie tot sind?«
Raban nickte. »Sie sind tot! Es war ein Blutritual!«
»Warum habt Ihr es nicht verhindert?«
»Nehmt Vernunft an, ich konnte es nicht, ich war alleine, und da war eine große Anzahl Krieger!«
Die Kriegerin schluckte, ihr Hals brannte unerträglich. »Laßt mich eine Weile allein!« sagte sie leise, während ihr Blick wieder auf den See fiel.
Raban ging ein wenig abseits am Ufer entlang. Nach drei Schritten wandte er sich noch einmal zu ihr um. »Wenn Ihr mich braucht, dann ruft nach mir, Gefährtin«, sagte er sanft.
Brunhild nickte dankbar. Schweigend beobachtete sie, wie Raban weiterging, bis er nach einer Weile den Wasserfall erreichte. Dort suchte er einen größeren Stein, auf dem er sich niederließ. Er zog eine silberne Flöte aus seiner Tasche und begann leise eine Melodie zu spielen, die nach und nach durch das Rauschen des Wassers bis zu ihr herüberklang. Es war ein trauriges Lied. Brunhild spürte, wie die Tränen in ihr aufstiegen. Das schwarze Haar des Mannes wehte leicht im Wind. Raban wirkt wie das Bild eines fernen Traumes, fand Brunhild. Fast so, als wäre er nicht wirklich da. Er ist ein schöner, anmutiger Mann geworden, dachte sie und wischte mit dem Handrücken die Tränen von ihren Wangen.
Die Melodie, die Raban spielte, war ihr fremd, und doch hatte sie etwas Tröstliches, das die schmerzende Stille in ihrem Herzen ausfüllte.
Raban nahm die Flöte von seinen Lippen und hörte auf zu spielen. Er dachte an den Krieger, den er im Wald erschlagen hatte. Der Mann hatte ihm keine andere Wahl gelassen, freiwillig hatte er den Umhang nicht hergeben wollen. Doch was Raban an dieser Geschichte verwirrte, war die Tatsache, daß er fast versucht gewesen war, das Blut des Mannes zu trinken. Auf eine seltsame Weise hatte der Gedanke plötzlich von ihm Besitz ergriffen. Nur mühsam hatte er sich losreißen können. Als er dann den Wasserfall erreicht hatte, war die Schlacht um den heiligen Garten bereits ausgebrochen. Er hatte sich versteckt und wollte der Priesterin bei ihrem Kampf gegen die heiligen Frauen zuschauen, doch dann hatte er die vertraute Gestalt Brunhilds zwischen den Kriegern gesehen. Sie hatte sich mutig der Übermacht gestellt und von ihrer Klinge gnadenlos Gebrauch gemacht. Für einen kurzen Augenblick hatte er sich wieder wie der kleine Junge gefühlt, der er einst gewesen war, und hatte Brunhilds Kinderlachen neben sich gehört. Er hatte vor Zeiten geschworen, ihr stets ein Freund zu sein. Ohne weiter darüber nachzudenken, was er tat, war er auf den Hengst gestiegen und zum See hinuntergaloppiert. Er wollte nicht, daß Brunhild starb.
Raban steckte die Flöte wieder in seine Tasche zurück. Er bereute nicht, Brunhild gerettet zu haben. Im Gegenteil, es rührte sein Herz, sie wiederzusehen, mehr als er es erwartet hatte. Sie war ein Teil seiner Vergangenheit. Aber die schwarze Priesterin war vielleicht seine Zukunft. Von ihr allein konnte er lernen, was er wissen wollte. Doch die Frau war verschwunden.
Langsam stand er auf und versuchte, sich in die schwarze Priesterin hineinzuversetzen. Er drehte sich einmal um sich selbst. In welche Richtung mochte sie wohl davongeritten sein, fragte er sich.
Arma war tot! Brunhild konnte es sich immer noch nicht vorstellen. Die blonde, starke Kriegerin hatte sie aufgezogen, sie war ihr Lehrerin, Freundin und Mutter gewesen. Brunhild erinnerte sich an die unsagbare Traurigkeit, die sie am Morgen überfallen hatte, als sie alleine in ihrer Höhle, die sie gewöhnlich mit Arma teilte, erwacht war. Doch da hatte sie dieses Gefühl auf die bevorstehende Weihe und ihren Abschied vom Zaubergarten geschoben. Sie schaute sich in dem steinernen Garten um. Gestern war hier alles anders gewesen. Unwillkürlich fielen ihr Ramees Worte wieder ein. »Jede Hüterin des Feuers muß sich der göttlichen Prüfung stellen, und diese Aufgabe ist niemals leicht.«