Als sie nach einer Weile den Tempelhügel erreichte, sah sie Raban näher kommen. Er führte seinen schwarzen Hengst am Zügel und winkte ihr zu.
Mit ein paar raschen Schritten lief sie Raban entgegen.
»Geht es Euch wieder besser?« Seine Stimme klang mitfühlend. »Ja«, erwiderte sie. Seine Besorgnis tat ihr gut.
»Das beruhigt mich.« Er lächelte und klopfte dem Hengst den breiten Hals.
»Euer Flötenspiel hat mir sehr gefallen!« sagte Brunhild. »Ich wußte gar nicht, daß Ihr die Musik liebt!«
Raban wandte den Blick ab. »Es gehört in Worms zu den Aufgaben eines guten Ritters, das Herz einer Dame mit Musik zu erfreuen«, erwiderte er.
»Das ist eine hübsche Sitte«, bemerkte Brunhild und fragte sich insgeheim, ob er vielen Damen mit seinen Melodien erfreut hatte.
Raban hob den Kopf, als habe er ihre Gedanken erraten. »Bis heute stand mir nie der Sinn danach. Meist habe ich für mich allein musiziert. Aber wenn Ihr wollt, werde ich gerne wieder für Euch spielen.« Er lächelte.
Brunhild nickte. Eine Weile stand sie schweigend da und schaute Raban an. Schließlich wandte sie den Blick ab.
»Woher habt Ihr das Schwert?« fragte er plötzlich und betrachtete interessiert die Klinge an ihrem Gürtel.
»Wieso ist es nicht zu Stein geworden, wie all das andere hier?«
»Ein fremder Reiter hat es mir geschenkt«, sagte Brunhild. »Habt Ihr ihn gesehen?«
»Ein fremder Reiter hier in dem Garten?« Raban schaute sie mißtrauisch an. »Nein, aber es scheint Euch nicht zu beunruhigen.«
Brunhild zuckte mit den Schultern. »Er sah nicht aus wie einer von Inmees Gefolgsleuten, und er hätte leichtes Spiel gehabt, mich in einem Kampf zu besiegen. Statt dessen schenkte er mir ein Schwert.«
»Sonderbar!« Raban rieb sich nachdenklich über das Kinn.
Brunhild fand die Geschichte zwar ebenfalls seltsam, doch sie war nun einmal geschehen. Mit Inmee war das magische Band, das um den Wasserfall gelegen hatte, zerrissen; es war nun jedem Fremden möglich, durch den Garten zu reiten.
»Habt Ihr etwas entdeckt, was uns bei der Suche nach Inmee weiterhelfen könnte?« fragte sie.
Der junge Ritter schüttelte den Kopf, so daß ihm eine schwarze Locke in die Stirn fiel. »Nein, ich glaube nicht«, entgegnete er ein wenig irritiert. »Ihr?«
»Ich weiß nicht genau, aber...« Mit kalten Fingern zerrte Brunhild das kleine Fell von ihrem Gürtel und hielt es dem Gefährten hin.
Raban wurde bleich. »Werft es fort, das hat gewiß keine Bedeutung!«
»Seid Ihr sicher?«
»Gewiß!« sagte er rasch.
»Kennt Ihr ein Tier mit einem solchen Fell?« fragte Brunhild. Offenbar wußte der Mann mehr, als er ihr eingestehen mochte. Mit einmal erschien es ihr seltsam, daß er ausgerechnet jetzt zurückgekehrt war. Sie dachte an den geheimnisvollen Fluch, der ihrer beider Leben verband.
Mirka hatte ihr erzählt, daß Lursa, Rabans Mutter, Brunhild verflucht hatte, indem sie wünschte, Raban würde sie einst mit seiner Liebe ins Unglück stürzen. Um diesem Fluch auszuweichen, hatten Mirka und Arma vor langer Zeit beschlossen, den jungen Raban ins ferne Worms zu schicken. Doch anscheinend waren alle Bemühungen, eine Begegnung zwischen ihnen unmöglich zu machen, vergeblich gewesen. Raban war zurückgekehrt.
»Ein Tier mit diesem Fell ist mir niemals begegnet!« sagte er, und es schien, als habe er seine Ruhe verloren. Brunhild betrachtete ihn verwundert.
»Ihr solltet das Fell wirklich nicht bei Euch tragen!« drängte er. »Das ist nichts für Euch!«
»Warum?«
Raban trat unruhig von einem Bein auf das andere. »Es ist nur ein Gefühl, eine dunkle Ahnung, daß es Euch Unglück bringen könnte.«
»Wenn Ihr mir nichts Genaueres zu sagen wißt«, bemerkte Brunhild fest, »dann werde ich mich zu gegebener Zeit davon trennen.« Sie klemmte das Fell zurück an ihren Gürtel und strich sich mit den Händen über das feuchte Leinenhemd.
»Laßt uns sehen, ob wir etwas Trockenes zum Anziehen finden«, sagte sie und wandte sich um. »Und dann werden wir uns auf den Weg machen, diese Priesterin zu suchen. Wir müssen herausfinden, wie wir Ramee und die anderen von diesem Zauber erlösen können.«
»Seid Ihr wahnsinnig geworden?« Raban hielt sie am Arm zurück. »Jeder vernünftige Mensch würde diesem Dämonenweib aus dem Weg gehen, und Ihr wollt sie freiwillig suchen? Habt Ihr überhaupt eine Vorstellung davon, was das bedeutet?« Seine Stimme klang gereizt.
»Nein!« erwiderte Brunhild. »Aber ich erinnere mich noch an die Worte, die Arma mir einst sagte, als ich noch ein Kind war.« Sie schob Rabans Hand von ihrem Arm. »Man kann niemals wissen, wie groß eine Herausforderung wirklich ist, wenn man sie nicht annimmt. Ich kann schließlich nicht hier sitzen und über vergangene Zeit trauern, während da draußen die Hohepriesterin der schwarzen Göttin Not und Elend verbreitet!«
»Das müßt Ihr doch nicht! Ihr könntet fortgehen von hier, ein neues Leben beginnen. Vergeßt diesen Garten!«
»Ein neues Leben beginnen und das alles hier so zurücklassen? Für wen haltet Ihr mich, Raban!«
»Für eine kluge Frau!« sagte er, und seine Augen funkelten sie an. »Glaubt Ihr, ich habe Euer Leben gerettet, damit Ihr es der Priesterin zu Füßen werft? Sie wird Euch zerstören, und der Tod wird für Euch noch das Geringste sein. Sie ist zu mächtig, Brunhild, selbst die alte Ramee konnte nichts gegen sie ausrichten. Seht das endlich ein! Ihr habt verloren!«
»Mir scheint, Mut gehört nicht zu den Tugenden eines Wormser Ritters!« schimpfte Brunhild und warf zornig ihren langen Zopf über die Schultern.
»Inmee wird Euch ins Verderben stürzen, bevor Ihr sie gesehen habt. Sie ist gnadenlos! Denkt an Arma und Mirka!«
»Eben weil ich an Arma und Mirka denke, werde ich nicht eher rasten, bis dieses Teufelsweib für ihre Freveltaten bezahlt hat!« sagte sie. Verächtlich schaute sie auf Raban. »Notfalls werde ich auch ohne Euch gehen!«
»Das werdet Ihr auch müssen«, sagte er. Seine Stimme klang wieder sehr weich. Fast traurig sah er sie an. »Ich werde nicht mit Euch reiten. Ich kam alleine, um Euch zu retten, das habe ich getan. Es steht Euch frei, mit Eurem Leben zu tun, was Euch beliebt.« Er faßte sie an den Schultern. »Verflucht, Brunhild, diesen Kampf könnt Ihr nicht mehr gewinnen, laßt es jemand anders versuchen!«
»Jemand anders? Schaut Euch doch um! Außer uns beiden, Raban, gibt es niemanden mehr!«
»Was ist mit dem geheimnisvollen Reiter, der Euch das Schwert schenkte? Warum war er hier, und warum gab er Euch diese kostbare Waffe?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Brunhild. »Doch ich weiß, daß es allein meine Aufgabe ist, Inmee zu finden!«
»Das ist Unsinn!« Zart streichelte er mit seinen Fingern über ihre Wangen. Er strich ihr eine lose Strähne aus dem Gesicht. Brunhild fühlte, wie ihre Knie zu zittern begannen. »Gebt auf, Gefährtin der Nacht«, bat er leise. »Ich bin auf dem Weg zu den Feuerbergen. Ich suche dort nach dem unterirdischen Schloß meiner Väter. Wir könnten es gemeinsam suchen! Es sollen dort unermeßliche Reichtümer verborgen liegen.«
Brunhild starrte den Mann ungläubig an. »Was wollt Ihr?«
»Das unterirdische Schloß meiner Väter finden! Gemeinsam mit Euch, Brunhild. Laßt uns gehen!«
Für einen Augenblick hielt Brunhild den Atem an. Ihr Herz schlug ein wenig schneller. Die Vorstellung, diese Trostlosigkeit hinter sich zu lassen und an Rabans Seite fortzureiten, um ein geheimnisvolles Magierschloß zu suchen, erfüllte sie mit tiefer Sehnsucht. Wie oft hatte sie als Mädchen davon geträumt, so zu leben, wie Arma es als junge Kriegerin getan hatte. Von einem Abenteuer zum nächsten zu ziehen. Fremde Länder und Menschen kennenzulernen, immer frei zu sein und nur dort zu bleiben, wo es einem gefiel. Ein solches Leben an Rabans Seite war alles, was ihr Herz begehrte. Sein Lächeln um sich zu haben jeden Tag und jede Nacht, seinen Geschichten zu lauschen, vielleicht seine Geliebte zu werden, all dies erschien ihr wie ein Traum. Der Fluch fiel ihr ein, und ihr Blick glitt über die steinernen Gestalten des Gartens.