Wieder sah er Brunhilds Augen im Geist vor sich, sah ihr Lächeln, hörte die Wut und die Verzweiflung in ihrer Stimme, als er fortgeritten war. Er war machtlos gegen diese Bilder, sie schienen sich in seinem Kopf eingebrannt zu haben!
Bortino schnaubte unruhig. Raban schreckte aus seinen Gedanken auf und horchte. Ihm war plötzlich, als habe er eine hohe Frauenstimme singen gehört. Neugierig lauschte er. Die Stimme kam von den nahen Klippen. Das Schicksal war mit ihm. Nur eine schwarze Priesterin würde auf solche Weise singen.
Vorsichtig, um nicht in eine Falle zu geraten, lenkte er den Hengst ein wenig abseits des Pfades hinter einen großen Felsen und stieg ab. Nach einer Weile erreichte er den Felsenwall und kletterte langsam daran hinauf.
Der Gesang wurde lauter. Raban orientierte sich, aus welcher Richtung die Töne drangen, und stieg zwischen den großen Steinblöcken entlang, bis er plötzlich das vertraute rote Schimmern eines Kleides hinter einem Stein gewahrte. Rasch zog er den Kopf ein, um nicht entdeckt zu werden, und schlich noch ein wenig höher hinauf. Als er oberhalb in den Klippen ein sicheres Versteck zwischen zwei Steinquadern gefunden hatte, von dem er aus einen Teil der nahen Felsen überblicken konnte, ließ er sich dort nieder. Vorsichtig streckte er den Hals über den Rand und schaute zu Inmee hinunter.
Die Priesterin saß auf einem Felsen, sie blickte auf den düsteren Ozean hinaus und sang eine einfache Melodie. Der Wind spielte mit ihren rotgoldenen Locken und ließ die Enden des roten Gewandes leicht wehen, so daß ihre Schenkel zu sehen waren. Wieder erstaunte es Raban, wie schön diese Frau war. Der Klang ihrer Stimme war anders als bei der Beschwörung der Wölfin und im Zaubergarten der Gwenyar. Alles Finstere, Drohende schien mit einemmal in dieser Frau verstummt zu sein. Sie wirkte zart, fast wie ein junges Mädchen. Für einen besonderen Moment glaubte er, etwas wie Wehmut und tiefe Einsamkeit in ihrem Lied zu hören. Ihr Gesicht hatte alle Kälte verloren, nichts Grausames oder Dunkles konnte er entdecken. Plötzlich fiel es ihm schwer, zu glauben, daß es nur ein paar Stunden her sein mochte, daß dieses aufregende Weib, das dort unten saß, den Zaubergarten der Gwenyar vernichtet hatte.
Ein dunkles Knurren ertönte, und sofort hörte Inmee auf zu singen. Sie hob den Kopf. Zwischen den Felsen näherte sich die schwarze Wölfin und schritt geradewegs auf die Frau zu. Raban fühlte, wie sein Herz ein wenig schneller schlug. An der Art, wie Inmee sich erhob, erkannte er, daß der kurze Augenblick der Zartheit und der Wehmut vorüber war. Inmee war wieder ganz die schwarze Priesterin der dunklen Göttin, ihr Gesichtsausdruck wurde hart und kalt.
Eine Weile standen sich die Frau und das Tier gegenüber und ließen einander nicht aus den Augen. Offenbar verständigten sie sich auf diese Weise. Raban dachte an die Bilder des Zauberschlosses, die er gesehen hatte, als er die Wölfin angeblickt hatte. Es war die Art des Tieres, sich mitzuteilen.
Inmees Finger begannen nervös mit dem Rubin zu spielen, den sie immer noch um den Hals trug.
»Warum sagt Ihr das erst jetzt? Ich werde sie töten! Brunhild darf nicht überleben! Sie ist nichts als eine junge Schwertmaid, sie hat kein Recht darauf, Hüterin des Feuers zu sein! Wir müssen sie finden!«
Raban horchte auf. Anscheinend wußte die Wölfin, daß Brunhild die Verwandlung am Wasserfall überlebt hatte. Die Priesterin schritt unten zwischen den Felsen an dem mächtigen Tier vorbei, um von den Klippen herunterzuklettern, als die Wölfin sich ihr erneut knurrend in den Weg stellte. Wieder schauten Inmee und das Tier sich eine Weile an, bis die Priesterin den Rücken straffte.
»Wie Ihr wollt«, hörte Raban sie sagen. Ihre Stimme klang eisig. Er konnte ihr ansehen, daß das, was die Wölfin ihr mitgeteilt hatte, ihr ganz und gar nicht gefiel. Zornig streckte die Priesterin das Kinn hervor. »Ich werde Brunhild Euch überlassen! Doch sorgt dafür, daß dieses verfluchte Weib mir niemals mehr unter die Augen kommt, denn ich werde sie töten, sobald ich die Gelegenheit dazu habe!« Mit diesen Worten eilte sie erhobenen Hauptes an der Wölfin vorbei und verschwand zwischen den Felsen.
Raban fragte sich einen Augenblick lang, was der Dämon mit Brunhild vorhaben mochte, doch dann sah er, wie die Wölfin plötzlich den Kopf hob und ihn geradewegs anschaute, als habe sie die ganze Zeit von seiner Anwesenheit gewußt.
Der Blick traf ihn trotz seiner heimlichen Sehnsucht danach so unerwartet, daß er sich einen Herzschlag lang an den Steinen festhalten mußte. Er spürte, wie der kühle, gelbe Strahl ihrer Augen ihn immer tiefer durchbohrte, als wolle er sein Herz treffen. Bilder von Brunhild und dem Mondscheintempel erwachten in seinem Inneren. Aber es waren finstere Bilder. Gleißend helle Blitze zuckten durch den nachtschwarzen Zaubergarten der Gwenyar, daß er erschrocken zusammenfuhr, als wäre er wirklich dort. Er sah Brunhild im Geist vor sich, wie sie sich zitternd im Tempel zusammenkrümmte, er hörte ihre verzweifelten Schreie und fühlte ihre peinigende Not, als wäre es seine eigene. Irgendwo krachte ein gewaltiger Donner nieder, daß er schon glaubte, der Mondscheintempel stürze ein. Dann war es plötzlich wieder still um ihn herum, nur sein Herz schlug laut und kräftig, und eine samtartige Stimme in seinem Kopf wiederholte unentwegt die gleichen Worte. »Du mußt sie retten! Hole sie aus dem Tempel! Nur du kannst sie retten...«
Raban stand allein zwischen den grauen Klippen, nahe dem dunklen Ozean, der in der Ferne hin und wieder ein paar weiße Schaumkronen trug. Die Wölfin war verschwunden, und auch die Priesterin konnte er nirgends mehr entdecken.
Fluchend kletterte er zwischen den grauen Steinblöcken wieder herab und rannte, so schnell er konnte, zu der Stelle, an der er Bortino verlassen hatte. Er und Brunhild waren Gefährten der Nacht. So einfach konnte er sie nicht ihrem Schicksal überlassen.
Er schwang sich auf den Rücken des Hengstes und jagte den Weg zurück, den er gekommen war. Vielleicht kam er noch rechtzeitig, um sie aus dem Tempel zu holen.
Brunhild rannte durch den Wald so schnell es der Weg zuließ. Atemlos sprang sie über felsige Wurzelenden und versteinerte Baumstämme. Immer wieder drehte sie sich um, sie konnte nichts erkennen, doch sie wußte genau, irgend etwas Unheimliches, Dunkles verfolgte sie auf leisen Pfoten. Es war plötzlich aus der Finsternis gekommen, die sich immer weiter ausgebreitet hatte. Weit vor sich sah sie den hellen, leuchtenden Lichtstreifen, auf den sie zulief, allmählich im Dunkeln verschwinden.
Plötzlich stolperte sie und fiel auf den steinernen Boden. Keuchend wollte sie wieder aufspringen, doch ihr fehlte die Kraft dazu. Schon glaubte sie, das Wesen würde die Chance nutzen und sich auf sie stürzen, doch es geschah nichts. Eine Ewigkeit verging, ohne daß sie einen Laut vernahm. Offenbar wartete das, was in ihrem Rücken lauerte, darauf, daß sie wieder fortlaufen würde.
Brunhild hielt sich die Hand an ihre Brust. Ihr Körper zitterte von der Anstrengung. Es mußte noch einen anderen Weg geben, diese Jagd zu beenden, aber um zu kämpfen, mußte sie wissen, wer ihr Gegner war. Langsam hob sie den Kopf und wandte sich mutig um. Diesmal sah sie es.
Brunhild hielt den Atem an. Unweit von ihr auf dem steinernen Boden lag ein großes, schwarzes Tier mit zotteligem Fell und blickte sie aus schrägen, bernsteinfarbenen Augen aufmerksam an. Als das Tier sich auch nach einer Weile nicht rührte, richtete Brunhild sich noch ein wenig weiter auf, um notfalls sofort auf die Füße springen zu können. Doch das Wesen schien sie nicht angreifen zu wollen, ja, es machte nicht einmal den Anschein, sie gejagt zu haben.
»Ich bin Loba, die Jägerin der schwarzen Göttin«, hörte Brunhild eine weiche Frauenstimme in ihrem Kopf sagen. »Ich bestimme die Regeln dieser Jagd! Ich werde dich jetzt nicht töten, aber sei darauf gefaßt, wenn ich will, werde ich dich jederzeit finden, wo immer du bist, ob du wachst oder schläfst, ob du mich erwartest oder mich fliehst. Du wirst, wenn ich es will, mein Geschenk an die schwarze Göttin sein! Ich bin die Jägerin der schwarzen Göttin, aber ich bin auch noch viel mehr. Sieh hin!«