»Nein!« sagte sie. »Nein, ich fürchte mich nicht.« Sie wußte, daß es nicht sehr überzeugend klang. »Ich wollte nur zur Göttin beten.« fügte sie leise hinzu und spürte, wie er sie musterte.
»Gut!« sagte er. »Es ist nämlich wirklich ein verdammt scheußliches Wetter da draußen.« Er kniete neben Brunhild nieder. »Ich hatte gehofft, Euch hier zu finden«, sagte er und berührte mit den Fingerspitzen zärtlich ihre kalten Wangen. »Verzeiht, was ich Euch heute mittag antat. Ich war ein Narr, daß ich Euch hier zurückließ, doch ich bin nun zurückgekehrt, um Euch von hier fortzuholen.« Er griff nach der Hand der Kriegerin.
Brunhild schaute ihn an. Sie war froh, Raban zu sehen. Die warmen Hände des Mannes beruhigten sie. Sanft schmiegte sie ihren Kopf an seine Schulter, als erneut ein Blitz durch den Tempel zischte.
»Kommt, wir müssen gehen. Dies ist nicht länger ein sicherer Ort für Euch«, sagte er, als ein weiterer Lichtblitz an ihnen vorüberzischte. Brunhild klammerte sich an Raban. »Aber die weiße Göttin...!« flüsterte sie.
Raban zog sie hoch auf die Füße. »Nicht jetzt!«
Brunhild fühlte, wie ihr schwindelig wurde. Ihr war kalt, und sie war hungrig. Ihre Knie gehorchten ihr nur allmählich.
Der junge Ritter umarmte sie einen Augenblick. Sie fühlte seinen Leib ganz nah an ihrem, als wolle er ihr damit einen Teil seiner Kraft geben.
»Alles wird gut!« flüsterte er. Seine Hand glitt zart über ihr Haar, dann legte er ihr einen Arm um die Schultern. »Kommt!«
Brunhild nickte und folgte ihm langsam aus dem Tempel heraus.
Als sie das silberweiße Tor passieren wollte, schlug ein eisiger Wind ihr entgegen, als wolle er sie in das Haus der Göttin zurücktreiben. Die junge Kriegerin rang nach Atem. Gleich darauf krachte ein Donner neben ihr nieder. Verzweifelt riß sie sich aus Rabans Arm los und flüchtete zurück in den Tempel.
Sofort war er wieder neben ihr. »Es sind nur ein paar Schritte.« Seine Stimme klang ruhig. Brunhild fühlte, wie er sie wieder mit beiden Armen umfing und sie an sich zog. »Ihr werdet es schaffen!« sagte er. »Wir werden den Tempel verlassen.«
»Aber es ist das Haus der Göttin! Bitte, Raban, laßt uns warten, bis dieses Unwetter vorüber ist!« Brunhild hielt sich an ihm fest. Ihr Herz raste, und sie glaubte, daß das Zittern in ihren Gliedern niemals enden würde.
»Nein, es ist zu gefährlich, der Tempel könnte einstürzen! Ich bringe Euch mit meinem Pferd fort von hier. Dieser Garten ist verflucht!«
Brunhild schaute den Mann an. Seine Augen blickten zärtlich auf sie hinab. Eine Weile stand sie so an ihn gelehnt, dann kamen seine Lippen ihren langsam näher. Brunhild lehnte den Kopf ein wenig zurück. Ein weicher Schauer erfüllte sie, als er sie küßte. Sie glitt ihm mit den Fingern durch das lange, vom Regen feuchte Haar, drückte sich gegen ihn und vergaß unter dem sehnsüchtigen Verlangen, das in ihr erwachte, alles ringsum.
Wieder fuhr ein Blitz zischend vom Himmel und traf die Tempelmauer, so daß ungezählte Funken durch die Nacht stoben und das ganze heilige Gemäuer zu beben schien. Brunhild schrie auf. Raban hatte recht. Der Tempel würde diesem Unwetter nicht mehr lange standhalten. Sie fühlte, wie Raban sie entschlossen auf seine Arme hob und sie zum Tempeltor trug. »Mir scheint, wir sind hier nicht länger willkommen«, sagte er.
Schaurig heulte der Wind über den versteinerten Garten hinweg. Brunhild fühlte den kalten Regen in ihrem Gesicht. Auf eine unheimliche Weise war sie plötzlich sicher, daß es ein Fehler war, den Tempel der weißen Göttin zu verlassen. Sie wollte etwas sagen, wollte umkehren, sie wollte wieder auf ihren eigenen Füßen stehen, doch Raban achtete nicht auf sie. Seine Hände trugen sie, während er gegen den Wind ankämpfte. Nach wenigen Schritten erreichten sie den mächtigen Hengst, der in der Nähe des Tempels wartete. Wieder verfehlte ein Blitz sie nur knapp.
Raban hob Brunhild wortlos auf das große Pferd hinauf, schwang sich selbst, ohne zu zögern, mit einem eleganten Sprung hinter sie und gab dem Tier die Sporen.
»Wartet!« rief Brunhild und schaute zurück. Über Rabans Schulter hinweg sah sie die schwarze, rauchende Narbe, die von dem letzten Blitz auf der weißen Tempelmauer zurückgeblieben war. Einen Herzschlag lang glaubte sie, daß sie dieses finstere Zeichen mit ihrer Flucht aus dem Tempel verursacht haben könnte. Dann hörte sie tief in ihrem Inneren ein dunkles Lachen, daß ihr Schauer über den Rücken liefen.
»Wir müssen umkehren«, flüsterte sie, aber der Wind trug ihre Worte davon. »Raban, laßt mich hier!«
Das mächtige Pferd unter ihr fiel in einen scharfen Galopp. Erschöpft schloß Brunhild die Augen.
6. KAPITEL
»Hier seid Ihr in Sicherheit«, sagte Raban leise und hielt Bortino an. Brunhild hob den Kopf. Der Regen hatte schon eine ganze Weile aufgehört. In der Ferne war zwar noch immer das dunkle Grollen des Donners zu vernehmen, doch in dem Wald ringsum klang es nicht mehr bedrohlich. Zögernd schaute sie sich um. Sie waren an einer kleinen Lichtung angelangt, die in einiger Entfernung des Zaubergartens lag.
»Kommt, wir werden hier rasten, bis die Sonne aufgeht.« Raban hob sie vom Pferd und stellte sie sanft auf die Füße. Brunhild fror; ihre Glieder schmerzten immer noch vor Kälte und Erschöpfung. Doch sie genoß es, statt des steinernen Bodens wieder weiche Erde unter ihren Füßen zu spüren. Vielleicht war es doch nicht so falsch gewesen, den Zaubergarten zu verlassen.
Sie sah zu, wie der Mann unweit von ihr niederkniete, um ein kleines Feuer zu entfachen. »Gleich wird Euch wärmer sein«, sagte er und blickte sie freundlich an.
Brunhild nickte und ließ sich ebenfalls nahe der Feuerstelle nieder. Sie betrachtete Rabans schmale Hand, die geschickt ein paar dürre Zweige aufstapelte und mit einem Feuerstein Funken schlug, bis schließlich die ersten Flämmchen gierig an den Hölzern leckten. Rasch legte er noch einige Äste nach, die er in der näheren Umgebung fand. Größer und größer wurden die orangeroten Flammen, so daß Brunhild bald ihre Hände in der Luft darüberschweben ließ, um sich daran zu wärmen.
»Habt Dank!« sagte sie leise und schaute den Mann an, der sich neben ihr ausstreckte.
»Ich wußte nicht, daß Ihr Euch immer noch vor Gewitter fürchtet, Kriegerin«, begann er das Gespräch. »Mir scheint, Ihr habt Euch nicht viel geändert!«
Brunhild betrachtete Raban. Offensichtlich spielte er damit auf die Nacht an, die sie als Kinder gemeinsam in einer Höhle verbracht hatten. Pyros war damals bei einem Unwetter in den Zaubergarten eingedrungen, und ein Blitz hatte schließlich den Tempel der weißen Göttin zerstört. Brunhild erinnerte sich gut an diese Nacht. Seither hatte es nie wieder ein Gewitter im heiligen Hain der Göttin gegeben. Solche Unwetter waren nur dann möglich, wenn das Zauberband, daß die Priesterinnen mit ihren Liedern um den Garten woben, zerrissen war.
Brunhild wandte den Blick ab und schaute in die Flammen. »Ich fürchte mich nicht«, sagte sie leise und suchte nach den Worten, mit denen sie Raban hätte erklären können, was in ihr vorgegangen war. »Ihr müßt verstehen, da war...«
Langsam richtete er sich auf. »Schon gut«, sagte er leise. »Ihr müßt mir nichts erklären.« Eine Weile betrachtete er ihr Gesicht, als wollte er es sich für alle Ewigkeiten einprägen. »Ihr seid schön geworden, Gefährtin der Nacht«, bemerkte er, während er ihr eine feuchte Haarsträhne aus der Stirn strich. Dann berührte er mit den Fingerspitzen sanft ihre Wangen, glitt hinab zu ihrem Hals und hielt am dünnen Stoff ihres Leinenhemdes inne.
»Das Zeug ist immer noch feucht. Kommt, ich helfe Euch, es auszuziehen.«
Er zog die Schleifenbänder an ihrem Hemd auf. »Wir müssen es über dem Feuer trocknen, sonst holt Ihr Euch noch den Tod«, sagte er.