Ein Schrei riß Norwin aus seinen Gedanken, dann hörte er das verzweifelte Wiehern eines Pferdes. Er hatte die Ebene fast überquert. Das Wiehern schien geradewegs aus dem Wald vor ihm zu kommen. Ohne zu zögern, gab er seiner Stute die Sporen und trieb sie auf die Bäume zu. Als er den Waldrand erreichte, war alles still. Nur in der Ferne klang leise der dumpfe Rhythmus eines davongaloppierenden Pferdes.
Nach einigen Schritten erblickte Norwin eine kleine Lichtung und zügelte das Pferd. Vor ihm stand eine junge Kriegerin. Sie wirkte ein wenig atemlos. Ihre Wangen waren gerötet, einzelne Haarsträhnen fielen ihr lose ins Gesicht. In der Hand hielt sie das eine Ende eines Gürtels, der in kleinen silbernen Ringen geflochten war und dessen anderes Ende bis hinab auf den Boden fiel. Als sie ihn kommen hörte, wirbelte sie herum.
»Reitet nicht weiter«, rief sie. »In diesem Wald lauert der Tod. Nehmt einen anderen Weg!«
»Wovon sprecht Ihr?« fragte er. Die Fremde trug die Kleidung einer gewöhnlichen Kriegerin, aber sie besaß weder einen Dolch noch ein Schwert.
»Ich rede von der Hohenpriesterin der schwarzen Göttin! Also sucht Euer Heil in der Ferne, bevor das Weib sich anders besinnt und noch einmal zurückkommt«, rief die junge Frau, während sie sich umschaute, als erwarte sie einen Angriff aus dem Hinterhalt.
»Wo ist die schwarze Priesterin?« Norwin hatte nicht damit gerechnet, sobald auf eine Spur Inmees zu treffen, doch irgendwie war er erleichtert darüber. Er wollte diese letzte Begegnung mit ihr endlich hinter sich bringen; er wußte, daß diesmal nur einer von ihnen beiden überleben würde.
Die Fremde zuckte mit den Achseln. »Ihre Stute galoppierte mit ihr in diese Richtung.« Sie zeigte auf ein dorniges Gestrüpp.
Norwin nickte. »Habt Dank für Eure Hilfe!« Er nahm die Zügel auf.
»Halt!« Die junge Frau stellte sich ihm in den Weg. »Ihr seid des Todes, wenn Ihr der Priesterin nachreitet.«
Norwin lächelte. »Ihr auch, falls Ihr Inmee noch einmal begegnet! Es wundert mich, daß Ihr einen Kampf mit ihr überlebt habt. Ich kenne niemanden, der sich bisher dessen rühmen konnte.« Norwin schaute die Kriegerin an. Er kannte Inmee lange genug, um zu wissen, daß diese junge Frau wahrscheinlich nicht ernsthaft eine Chance gegen die Priesterin gehabt hätte. Entweder hatte hier eben ein Wunder stattgefunden und Inmee hatte die junge Frau aus irgendeinem Grund leben lassen, oder aber es gehörte zu Inmees Spiel, der Kriegerin eine Illusion vom Sieg zu vermitteln. Inmee hatte gelegentlich ihr Vergnügen daran, mit ihren Opfern zu spielen, wie eine Katze es mit einer Maus tat. Auf diese Weise konnte sie die Niederlage ihrer Gegner doppelt auskosten.
»Warum reitet Ihr dann weiter?«
»Laßt das meine Sorge sein, Kriegerin!«
Die junge Frau nickte und schaute auf den Gürtel in ihrer Hand. Mit einer geschickten Bewegung schlang sie den kostbar gearbeiteten Schmuck um ihre Taille. »Aber sie lebt noch!« sagte sie.
Norwin legte die Hand auf sein Schwert. »Mir wird schon etwas einfallen, um Inmee zu besiegen; und falls nicht«, er zögerte einen Augenblick, »falls nicht, wird die weiße Göttin mir vergeben!« Zögernd deutete er eine Verbeugung an.
»Nehmt mich mit!« Die Kriegerin griff seinem Pferd in die Zügel und brachte es wieder zum Stehen.
»Aber womit wollt Ihr kämpfen? Ihr habt nicht einmal ein Schwert bei Euch.«
Die junge Frau lächelte. »Laßt das meine Sorge sein, Krieger!«
Norwin zögerte. »Zu zweit auf einem Pferd werden wir zuviel Zeit brauchen!«
»Vielleicht, aber vier Augen sehen mehr Spuren als zwei!«
Norwin nickte. Die Kriegerin war eine Frau nach seinem Geschmack. »Wie Ihr wollt, Streiterin!« Er reichte ihr die Hand, und sie schwang sich hinter ihn auf die Stute.
»Wir müssen hier entlang«, sagte sie und deutete wieder auf das Dornengestrüpp.
Norwin trieb die Stute vorwärts.
»Sonderbar«, sagte Norwin, nachdem sie eine Weile schweigend Inmees Fährte gefolgt waren. Er sprang von dem Rücken des Pferdes herab und untersuchte den Waldboden genauer. »Es sieht aus, als hätte Inmees Stute etwas hinter sich hergezogen. Anfangs dachte ich, es wäre vielleicht ein Zufall gewesen, daß die Äste der Sträucher abgebrochen sind, doch hier sieht man deutliche Schleifspuren.«
»Ja«, erklärte die Kriegerin. »Die Stute zieht Inmee hinter sich her. Nach dem Kampf konnte sich die Priesterin nicht mehr auf den Rücken des Pferdes schwingen. Als die Stute losgaloppierte, zog sie Inmee mit sich.«
»Wollt Ihr etwa behaupten, daß die Hohepriesterin der schwarzen Göttin in einem Kampf mit Euch so verletzt wurde, daß sie sich nicht mehr auf das Pferd schwingen konnte?«
Die Fremde nickte ernst.
Norwin schüttelte den Kopf und stieg wieder auf das Pferd.
»Ihr müßt über außergewöhnliche Kräfte verfügen!« Besorgt fragte er sich, welches Dämonenweib da hinter ihm auf dem Pferd saß. Ein wenig langsamer als zuvor folgte er der Fährte. Wenn dieses Kriegermädchen es wagte, den Kampf mit der Hohenpriesterin aufzunehmen und ihn offenbar auch noch gewann, konnte es nur heißen, daß sie über noch größere Macht verfügte, als er sich in seinen Träumen vorstellen konnte. Vielleicht war ihre Kriegertracht nichts anderes als eine Tarnung, um Fremde zu täuschen. Er schnaufte. Er haßte die Magie.
»Ist Euch nicht wohl?« Die Stimme hinter ihm klang ehrlich besorgt.
»Es ist alles in Ordnung!« erwiderte Norwin und nahm sich vor, nicht zu viele Fragen zu stellen.
»Macht Euch keine Sorgen.« Die Frau legte ihm eine sanfte Hand auf die Schulter. Sie fühlte sich warm an, auch das war anderes als bei Inmee. »Die Göttin ist mit uns.«
Norwin gab einen schnaufenden Laut von sich. Vielleicht muß ich wirklich darauf vertrauen, dachte er.
»Seht dort!« Die Fremde hinter ihm deutete auf die weiße Stute der Priesterin, die in einiger Entfernung auf dem Boden lag.
»Wir haben sie gefunden!« Ehe er sich versah, war die Frau hinter ihm vom Pferd gesprungen und auf die Stute zugelaufen. Norwin schaute sich um. Er fürchtete eine Falle. Es sah Inmee ähnlich, für einen Sieg ihre eigene Stute zu opfern.
Nur langsam folgte er der Kriegerin. Als er sie erreichte, sah er, daß sie angewidert fortschaute.
»Das Pferd ist tot, nicht wahr?« fragte er und ließ sich auf den Boden gleiten. Mit wenigen Schritten war er neben der Fremden.
Inmee hatte dem Tier offenbar in die Kehle gebissen und das Blut getrunken. Das Pferd bot einen entsetzlichen Anblick.
»Ihr müßt sie schwer verletzt haben, wenn sie das Blut ihrer eigenen Stute trinkt«, bemerkte Norwin. »Aber das bedeutet auch, daß sie nun wieder über ihre Kräfte verfügt.«
»So etwas habe ich noch nie zuvor gesehen«, sagte die Kriegerin, als habe sie seine Worte überhaupt nicht gehört, und kniete neben dem Kopf der Stute nieder. »Wie kann jemand mit einem Tier so grausam umgehen?«
Norwin sah, wie die junge Frau dem weißen Pferd über den blutigen Kopf streichelte und die weit geöffneten Augen des gepeinigten Tieres schloß. Anscheinend hatte sie nicht viel Erfahrung mit Inmee, sonst würde sie sich über solch düstere Rituale nicht wundern. Die Schwertmaid wurde ihm immer unheimlicher.
»Wir sollten weiterreiten«, mahnte er.
»Einen Augenblick noch«, bat die Fremde und begann, ein Lied zu singen.
Einen Herzschlag lang fuhr Norwin die nackte Angst in die Glieder. Er hatte es geahnt, dies war wieder so ein Dämonenweib. Er erinnerte sich an Inmees Gesang und an die schmerzhaften Folgen. Soweit wollte er es nicht mehr kommen lassen und griff entschlossen zu seiner Klinge. Schon wollte er ausholen, um der Fremden den Kopf abzuschlagen, als ihn irgend etwas zögern ließ.