Norwin warf einen Blick über das Lager. Es war ungewöhnlich ruhig in dieser Nacht. Die Männer schliefen. Sie hatten auf den Befehl der schwarzen Priesterin hin ihre Waffen poliert und sich in ihre Zelte zurückgezogen. Keiner der Krieger hatte es gewagt, den Wein anzurühren, den Inmee in ihrem Wagen reichlich mitgeführt hatte. Norwin atmete auf, fast hätte er sich der friedlichen Illusion hingeben können, es sei alles wieder in Ordnung. Keiner seiner Leute schlug mit dem Schwert auf einen Freund ein, keiner grölte herum oder peitschte ein Pferd, doch zu viel war in den vergangenen Nächten geschehen, als daß er es hätte vergessen können. Inmee hatte ihnen, bevor sie am Abend fortgeritten war, reiche Beute für den folgenden Tag versprochen und dafür eine kampfeskräftige Kriegerschaft gefordert. Die Männer gehorchten ihr.
Der Krieger schaute zum Himmel hinauf. Er hatte es aufgegeben, herausfinden zu wollen, was die schwarze Priesterin vorhatte. Mitternacht war schon vorüber. Der rote Mond war weiter gezogen. Es blieb Norwin wahrscheinlich nicht mehr viel Zeit, bis Inmee zurückkam.
Müde rieb er sich mit den Händen über die brennenden Augen. Morgen sollte am Wasserfall die neue Hüterin des Feuers geweiht werden, doch Inmee hatte offensichtlich andere Pläne. Sie hatte ihm und seinen Männern mit diesen geheimnisvollen Gesängen, die sie des Nachts mit betörender Stimme am Feuer sang, mehr und mehr die Sinne geraubt, um ihre eigenen Pläne zu verwirklichen.
Norwin war sich nun nicht mehr sicher, was morgen sein würde, ob es für ihn überhaupt noch einen nächsten Sonnenaufgang gab. Schließlich hatte er sich Inmees Befehl widersetzt und die beiden Frauen in seinem Zelt noch nicht getötet. Er würde sie auch nicht töten; das war alles, was er wußte.
Traurig dachte der blonde Krieger an die glorreichen Tage vor dem letzten Vollmond zurück, in denen er an der Spitze dieser edlen Männer von den Feuerbergen aufgebrochen war mit dem Auftrag, Brunhild, die neue Hüterin des Feuers, in ihr Reich heimzuholen. Welch einen prächtigen Anblick hatte diese Gesandtschaft, als sie auszog, dem jubelnden Volk geboten! In ihren weißen, langen Umhängen waren sie davongeritten, mit wehenden Bannern, welche die Wappen der Feuerberge trugen. Die Schwerter hatten in der Sonne geblinkt. Brunhild hätte stolz auf diese Eskorte sein können. In vielen Sommern hatten die Menschen rund um die flammenden Berge für Brunhild, die Tochter Luovanas, die alte zerstörte Burg inmitten des Lavaringes wieder aufgebaut, damit die neue Herrin der Glut sich in ihrem Land zu Hause fühlen konnte.
Norwin schüttelte sich unwillkürlich. Wenn er sich und die Männer nun ansah, überkam ihn Ekel und Haß. Aus den edlen Kriegern, deren Herzen noch vor etwas mehr als einem Mond alleine für die feurigen Berge und ihre neue Hüterin schlugen, waren Räuber und Trunkenbolde geworden, die des Nachts den seltsamsten Vergnügungen nachgingen. Sie hatten Dörfer geplündert, Frauen geschändet, Kinder getötet. Eine Horde wilder Barbaren hätte nicht schlimmer wüten können, als sie es unter Inmees Einfluß getan hatten. Norwin hatte versucht, dagegen anzukämpfen, doch gegen die Worte und Lieder der Priesterin war er machtlos.
Er schnaufte verächtlich, während er langsam zu seinem Zelt ging.
Schon als sich diese schwarze Priesterin ihnen anschloß mit dem Vorwand, sie wolle auch an den Feierlichkeiten zu Ehren der neuen Hüterin am Wasserfall teilnehmen, hatte sich der Himmel über ihnen verdunkelt. Drei seiner Männer hatte er seither begraben müssen. Die schwarze Priesterin hatte sie in grausigen Ritualen geopfert, ohne daß er etwas dagegen tun konnte.
Der blonde Krieger schlug die Decke, die den Eingang seines Zeltes schützte, zurück und trat in den kleinen warmen Raum. Eine Kerze spendete ihm gerade Licht genug, um die Gesichter der beiden ohnmächtigen Frauen zu betrachten.
Qualvoll hatte er am frühen Abend mit ansehen müssen, wie Inmee die Frauen im Wald in einen Hinterhalt gelockt hatte. Mirka, die Hohepriesterin, und Arma, die Kriegerin, waren gekommen, um die Eskorte für Brunhild zu begrüßen und zum Wasserfall zu geleiten. Sie ahnten nichts von der seltsamen Sinneswandlung der Männer aus den Feuerbergen.
Mit einem scheußlich klingenden Fluch hatte Inmee die beiden ins Reich der Träume geschickt, während gleichzeitig Mon, der beste Bogenschütze, den Frauen in den Rücken schoß. Dann war Inmee zu der blutenden Hohenpriesterin gegangen und hatte ihr den Rubin, den sie an einem ledernen Band um den Hals trug, entrissen.
Norwin hatte die beiden Frauen, die seine Männer achtlos liegengelassen hatten, in sein Zelt getragen.
Irgend etwas in ihm hatte den Kampf gegen Inmee noch nicht aufgegeben, auch wenn ihm eine weiche, dunkle Stimme ständig zuflüsterte, daß diese Anstrengungen vergeblich seien.
Behutsam streichelte Norwin über die Wangen der blonden Kriegerin. Dann nahm er die Tücher ab, die er Arma auf den Rücken gelegt hatte. Die Wunden waren tief. Er konnte die Krieger unmöglich auf ihr Pferd legen und sie zum Wasserfall zurückbringen. Allein der Ritt würde sie töten. Norwin stand auf und holte aus einem Weidenkorb, der in einer Ecke seines Zeltes stand, neue Leinentücher. Vorsichtig bedeckte er die Wunden wieder damit. Mehr konnte er nicht tun.
Der Krieger horchte auf. Aus der Ferne erklang der vertraute Rhythmus eines galoppierenden Pferdes. Inmee kehrte zurück.
Er beugte sich über Mirka. Auch wenn die Hohepriesterin ihn nicht hörte, so wollte er sie doch um Vergebung bitten für alles, was sie erdulden mußte.
Die dumpfen Schläge der Hufe auf dem weichen Boden wurden langsamer und hielten schließlich vor seinem Zelt an. Inmee rief mit verzerrter keuchender Stimme nach Herod, einem starken jungen Burschen mit blondem lockigen Haar und Armen, die einen Schmied zur Ehre gereicht hätten. Herod war der Gesandte des reitenden Volkes, das südlich der Feuerberge lebte.
Norwin hörte, wie einer der Wachen zu dem Zelt lief, in dem der Junge schlief, und ihn aufweckte.
»Kommt in Norwins Zelt!« befahl Inmee, als der Bursche antwortete, dann schlug sie die Decke von dem Eingang zurück und trat ein.
Der Krieger erschrak, als er die Priesterin erblickte. Sie schien dem Tod nur um Haaresbreite entronnen zu sein, so bleich war ihr Gesicht. Ihre Haut war faltig geworden, und schwarze Schatten lagen unter ihren Augen. Ihr langes, rotblondes Haar fiel in feuchten, schmutzigen Strähnen auf den schwarzen Umhang herab, als wäre es das Fell eines wilden Tieres. Inmees ganzer Körper schien in sich zusammengesunken zu sein. Von ihrer strahlenden Geschmeidigkeit war nichts als ein steifes, knöchernes Gerüst geblieben. Über ihre Arme liefen lange rote Schnittwunden, doch sonst konnte er keinerlei Verletzungen an ihr erkennen, die vielleicht auf einen Kampf hätten schließen lassen. Dennoch schien die Priesterin, was immer sie in dieser Nacht auch getan haben mochte, auf eine schaurige Weise mit ihrem eigenen Leben bezahlt zu haben.
Norwins Blick fiel auf den Rubin, den sie um den Hals trug. Der Stein war kleiner als zuvor, auch war der sanfte Schimmer, der ihn umgeben hatte, erloschen; matt und kalt hing er an dem Lederband.
»Die beiden leben noch immer?« fragte Inmee und warf achtlos ein Bündel Stoff in eine Ecke des Zeltes, das sie bei sich getragen hatte.
Norwin nickte stumm. Er fühlte sich elendig, und er haßte sich dafür.
»Wir reden später darüber!« sagte sie.
Mit einer raschen Bewegung erschien Herods blonder Lockenkopf im Zelt.
»Ihr habt nach mir geschickt, Herrin?« fragte er.