Brunhild schaute auf. Die Flammen jagten jetzt unter dem Rauch hervor. Blutrot und gierig wie Dämonen fraßen sie sich durch die kalte Luft in den mattgrauen Abendhimmel hinauf.
Ein paar schwarze Gestalten standen stumm um das Feuer. Dann und wann traten sie zur Seite, wenn einige Männer einen weiteren leblosen Körper herbeitrugen, den sie zu den anderen auf den Scheiterhaufen warfen.
»Die Göttin stehe uns bei«, sagte der Krieger leise. »Sie verbrennen wirklich Menschen. Inmee hat das Dorf vernichtet.«
Die Stute tänzelte unruhig auf der Stelle. Vor ihnen auf dem Weg lag ein alter Mann und rührte sich nicht mehr. Brunhild wollte das Pferd um ihn herumlenken, als sie fühlte, wie der Krieger sich hinter ihr wortlos vom Pferd gleiten ließ. Er kniete bei dem Fremden nieder.
»Nein, tut das nicht!« sagte Brunhild, die plötzlich eine Ahnung in sich spürte, daß ihnen Gefahr drohte.
»Die Überlebenden könnten es falsch verstehen. Sie werden denken, wir wollten sie ebenfalls töten. Bedenkt, sie sahen ihre Freunde und Verwandten sterben, und der kalte Haß wurde in ihnen gesät!«
»Keine Angst, Kriegerin, ich gebe auf mich acht«, sagte er und drehte den Alten vorsichtig auf den Rücken. Im Schein des Feuers konnte Brunhild das entstellte Gesicht des Fremden sehen. Der Kopf des Mannes war seltsam nach hinten verrenkt. Seine Kehle war durchgebissen.
»Die Wölfin!« rief der Krieger leise und schaute zu ihr hoch. Entschlossen zog er sein Schwert. »Hier, nehmt das, falls Ihr ein großes, schwarzes Ungeheuer mit dem riesigen Kopf einer Wölfin seht. Ich hoffe, Ihr wißt, wie man damit umgeht.«
Brunhild lächelte einen Augenblick. »Ja, ich weiß damit umzugehen.« Dann wurde sie wieder ernst. Sie schaute auf den alten Mann am Boden. Das Grauen, das Inmee und die Wölfin über die Menschen hier gebracht hatte, war weit schlimmer als alles, was am Wasserfall geschehen war. Anscheinend hat die alte Ramee einiges von den finsteren Zaubern aufhalten können. Brunhild richtete sich auf dem Rücken der Stute auf. Sie wog das Schwert in ihrer Hand und betrachtete einen Augenblick die scharfe Klinge. »Ich werde nachsehen, ob sie noch hier sind«, sagte sie zu dem Krieger und nahm die Zügel auf.
Der Mann nickte. »Gebt acht auf Euch!« rief er leise und drückte dem Fremden die Augen zu.
Das riesige, flackernde Feuer übte eine magische Anziehungskraft auf Brunhild aus. Langsam ließ sie das Pferd am langen Zügel ein paar Schritte näher auf den gigantischen Scheiterhaufen am Ende der Straße zugehen, während sie das Schwert in der Hand zum Kampf bereithielt. Je näher sie kam, um so heftiger brannte der schwarze Rauch ihr in den Augen. Sie erinnerte sich an das Orakel. Alles ringsum war genauso, wie sie es in den Flammen gesehen hatte. Das zerstörte Dorf, das Feuer am Ende des Weges.
Ich hätte das alles verhindern können, dachte sie, wenn ich Inmee mit dem Gürtel getötet hätte.
Während sie noch darüber nachsann, zerriß ein verzweifelter Kinderschrei die Stille. Brunhild war augenblicklich hellwach.
»Das Mädchen«, rief sie dem Krieger hinter sich zu. »Die Wölfin jagt das Mädchen!« Sie drehte die Klinge einmal in ihrer Hand und trieb die Stute ohne weitere Überlegungen zwischen den Häusern hindurch in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war. Irgendwo hinter sich hörte sie den Krieger nach ihr rufen. »Wartet«, schrie er. »Wo wollt Ihr hin?«
Brunhild antwortete ihm nicht. Erbarmungslos spornte sie die Stute an, bis sie ein wenig außerhalb des Dorfes in dem diffusen Halblicht ein kleines Waldstück ausgemacht hatte. Der Schrei des Kindes dröhnte in ihren Ohren. Atemlos hielt Brunhild auf die Bäume zu. Dann endlich sah sie zwischen den kahlen Ästen den großen, schwarzen Schatten der Wölfin. Leuchtend weiß blitzten die langen Reißzähne in der Dämmerung auf. Der Dämon stand nahe dem kleinen Körper des Mädchens, das nun laut weinend am Boden lag.
Wütend trieb Brunhild ihr Pferd auf den Schwarzpelz zu. Sie durfte nicht zu spät kommen. Das zottelige Tier senkte seinen großen Kopf gierig über das Kind. Brunhild fühlte, wie ein Welle des Hasses ihr Innerstes überflutete.
»Nein!« Zornbebend schrie sie auf, ihr Herz raste vor Wut über die Wölfin. Sie ließ die Zügel des Pferdes los, schwang das Schwert und warf sich mit samt der Klinge von der galoppierenden Stute herab auf den mächtigen Rücken der Wölfin. Gewaltsam rammte sie dem wilden Tier mit einem Schrei die Klinge ins Herz.
Einen Lidschlag lang schien alles um sie her in Stille zu versinken, dann zerriß das schallende Lachen einer Frau die Luft. Die Wölfin war nirgends zu sehen.
Das Mädchen unter ihr rührte sich nicht mehr. Es war tot. Das Schwert, das Brunhild noch immer in ihren Händen hielt, ragte wie ein blutiger Pfahl aus dem kleinen Leib heraus.
Wieder ertönte das kalte Lachen. Für den Hauch eines Augenblicks glaubte Brunhild, die gelben Augen der Wölfin zwischen den Sträuchern aufblitzen zu sehen. »Ich werde Euch jagen, Brunhild, wo immer Ihr seid!« sagte eine Stimme in ihrem Kopf.
»Was habt Ihr getan?« Entsetzt riß der Krieger die Augen auf. Atemlos stand er vor dem toten Kind, er mußte den ganzen Weg vom Dorf her gerannt sein und konnte den Blick nicht abwenden.
Brunhild fühlte, wie allmählich die seltsame Starre, die sie überfallen hatte, aus ihrem Leib wich und sie wieder atmen konnte.
Dies hier ist kein Traum, dachte sie.
Traurig blickte sie ebenfalls auf das tote Kind zu ihren Füßen. Es sah genauso aus wie das Mädchen, das sie in dem Orakel gesehen hatte. Die blonden Haare umrahmten das zarte Gesichtchen. Ihre Lippen waren noch vom Schrei geöffnet, ihr Kleid war zerrissen und blutig. Mit einem Ruck riß Brunhild das Schwert aus dem kleinen Leib und schleuderte es hinter sich.
»Ihr habt das Kind getötet!« sagte der Mann, ohne aufzuschauen. »Was bei allen Namen der Göttin ist in Euch gefahren, Kriegerin?« Vorsichtig beugte er sich zu der Kleinen nieder und streichelte ihr über das Haupt.
Brunhild wischte sich eine lose Strähne aus den Augen.
»Ich weiß, was ich getan habe!« sagte sie rauh. »Ich konnte ihren Tod nicht verhindern!«
Ungläubig schaute der Krieger auf. »So wie es aussah, habt Ihr den Tod des Kindes verursacht, Kriegerin. Ihr habt Euch, das Schwert schwingend, auf das Mädchen gestürzt.«
»Für Eure Augen vielleicht!« sagte Brunhild. »Aber ich habe die Wölfin gesehen. Sie war hier, sie hatte sich über das Kind gebeugt, um ihm die Kehle durchzubeißen. Ich wollte es verhindern, aber sie hat mir eine Falle gestellt.«
Der Mann schaute sie sonderbar an. »Ich habe die Wölfin nicht gesehen, aber ich war auch zu weit hinter Euch! Ihr seid schließlich geritten, als wäre Euch ein ganzes Dämonenheer auf den Versen.«
»Ich wollte das Kind retten!« sagte Brunhild bitter.
Der Mann vor ihr schwieg.
Brunhild schlug mit der Hand an einen der nahen Baumstämme. »Verdammt!« fluchte sie. »Ich hätte es wissen müssen, daß eine Jägerin der schwarzen Göttin niemals den gerechten Kampf sucht.«
Ratlos schaute der Krieger zwischen ihr und dem Kind hin und her. »Und was nun?« fragte er leise.
Brunhild bückte sich zu dem Mädchen nieder. »Gebt mir Euren Dolch«, sagte sie. Ihr Zorn über sich und die Wölfin verblaßte, als sie die kleinen Hände des Kindes einen Augenblick in die ihren nahm.
»Wozu?« Mißtrauisch kniff der Mann die Augen ein wenig zusammen.
»Gebt ihn mir einfach!« bat sie.
Widerwillig zog er den schmalen Dolch aus dem Gürtel und reichte ihn ihr.