Brunhild beugte den Nacken und schnitt sich damit den langen, schweren Haarzopf ab. Behutsam legte sie das geflochtene Haar über den Leib des Mädchens. »Wenn du auf deiner Reise zum Totentor der großen Kriegerin Arma begegnest«, sagte sie leise, »dann gib ihr dies von einer unwürdigen Schülerin. Bitte sie, dich in ihre Obhut zu nehmen, und sage ihr, sie möge mir verzeihen, wenn ich ihr von heute an nicht mehr folge. Von nun an, mein Kind, wird es die Kriegerin in mir nicht mehr geben, nur noch die Dienerin der Göttin!«
Sie gab dem Krieger den Dolch zurück. »Ich brauche keine Waffen mehr!« sagte sie.
Brunhild streichelte der Kleinen über das Haar und begann, leise einen alten Vers zu summen, den die Priesterinnen für die Toten sangen, die mit den Schiffen zu den Inseln der Göttin fuhren.
»Möge die heilige Herrin dich in ihren Gärten willkommen heißen«, sagte sie, als sie geendet hatte, und segnete das Kind, wie sie es von Mirka gelernt hatte. Dann hob sie das Mädchen behutsam auf ihre Arme. Sie wandte sich an den Krieger.
»Ich werde die Kleine ins Dorf zurückbringen. Die Bewohner werden sich von ihr verabschieden wollen, bevor auch ihr Körper verbrannt werden muß. Der Dämon war ihr sehr nah, es ist besser, sie den Flammen zu übergeben.«
»Ihr seid von Sinnen! Die Menschen werden Euch bei lebendigem Leib gleich mit ins Feuer werfen, wenn Ihr dieses Kind tot zurückbringt. Sie haben das Mädchen genau wie ich schreien gehört, und sie sahen Euch, wie Ihr mit schwingender Klinge der Kleinen im gestreckten Galopp gefolgt seid, als wären die Geister der Toten hinter Euch her. Doch die Wölfin hat gewiß keiner von ihnen gesehen. Niemand wird Euch glauben!«
»Ich weiß«, sagte Brunhild. »Habt Dank für Eure Sorge, Krieger, aber ich muß gehen.«
»Ebensogut könntet Ihr Euch den Dolch selbst an die Kehle legen!« erwiderte Norwin. »Wir haben keine Chance, gegen ein ganzes Dorf zu kämpfen, das wütend ein Opfer für seine Toten fordert.«
Brunhild schüttelte den Kopf. »Ich habe auch nicht vor zu kämpfen.« Sie drückte das Kind ein wenig an sich. »Jedenfalls nicht mit den Menschen dort!«
»Aber die Männer werden es nicht verstehen!« Der Krieger fuhr sich nervös mit den Fingern durch die Haare. »Laßt uns die Wölfin jagen. Hier können wir nichts mehr tun!«
Brunhild schüttelte den Kopf. »Nein, Krieger.« Sie schaute ihn an. »Genau das würde die Wölfin von mir erwarten, doch erst muß ich diesen Weg zu Ende gehen. Ihr müßt mir nicht folgen«, sagte sie leise.
Nachdenklich rieb er sich über die Augen. Seine blonden Haare fielen ihm weich in die Stirn, sein Gesicht war nicht mehr ganz jung, deutlich erkannte Brunhild einige zarte Linien, die seine Augen umrandeten. Wenn er lächelte, lag stets ein Hauch von Traurigkeit in seinem Gesicht. Sie hatte sich in seiner Nähe sehr wohl gefühlt.
»Es war schön, Euch begegnet zu sein«, bemerkte sie leise, »aber nun lebt wohl, Krieger!«
Sie trat zwei Schritte an ihm vorbei und schaute durch die Bäume hindurch auf das Dorf. »Sie kommen!« Einen Lidschlag lang hielt sie den Atem an. Sie hatte das Gefühl, als seien ihre Glieder plötzlich aus Eisen geschmiedet, dann riß sie sich zusammen.
Der Krieger drehte sich um und folgte mit den Augen Brunhilds Blick.
»Es sind viele«, sagte er. »Wahrscheinlich alle, die noch zum Kampfe fähig sind! Sie wollen die schwarze Brut vernichten.«
Brunhild schätzte, daß es mehr als ein Dutzend Fackeln waren, die dort in der Dunkelheit brannten und langsam näher auf das Waldstück zukamen.
»Ich kann es ihnen kaum verübeln«, erklärte sie. Dann wandte sie sich an den Krieger. »Macht, daß Ihr endlich von hier verschwindet, wenn Ihr Euren Kopf noch retten wollt. Ihr habt diesem Kinde nichts angetan!«
»Wartet!« Der Krieger hielt sie am Arm zurück. »Ihr habt vorhin gesagt, daß Ihr Arma, die Kriegerin, gekannt habt.«
Brunhild nickte. »Ja, sie war meine Ziehmutter! Aber nun ist nicht der rechte Zeitpunkt, um über vergangene Tage zu plaudern.«
»Vielleicht doch«, sagte der Krieger. »Verratet mir Euren Namen.«
»Brunhild«, sagte sie. »Und jetzt lebt wohl!« Sie wandte sich um und ging. Sie wollte den schweren Weg, der vor ihr lag, endlich hinter sich bringen.
Nach wenigen Schritten, die sie bis zum Waldrand gegangen war, spürte sie den blonden Krieger wieder an ihrer Seite.
»Wolltet Ihr nicht verschwinden?« fragte sie und legte die Stirn in Falten. Der Krieger schien die Gefahr zu unterschätzen.
»Nein, ich werde nicht gehen!«
»Herr!« Brunhild blieb stehen. »Dies dort ist keine friedliche Versammlung zu Ehren der Hüterin des Feuers«, sagte sie, »sondern ein zorniges Gericht für eine Kindesmörderin! Vergeßt das nicht! Was also hält Euch hier?«
Er lächelte einen Augenblick. »Ihr seid die neue Hüterin des Feuers! Das ist Grund genug, Euch nicht zu verlassen!«
»Was für eine Bedeutung hat das jetzt noch?« Brunhild wurde ungeduldig.
»Seid Ihr es wirklich?« Er hielt sie am Arm zurück. »Ich muß es wissen!«
»Ja, ich bin es, Krieger.« Brunhild schnaufte ärgerlich und befreite ihren Arm so gut es ging. »Ich bin die Hüterin des Feuers!«
Norwin lächelte. »Dann ist mein Weg an Eurer Seite!«
Brunhild hob fragend die Brauen. »Warum? Ihr habt eine Aufgabe, Ihr müßt die Hohepriesterin der schwarzen Göttin vernichten.«
»Nein, Hüterin, das muß ich nicht!«
Fragend hob Brunhild die Brauen.
»Mein Name ist Norwin«, erklärte er. »Ich stamme aus den Feuerbergen, wo das Volk die Ankunft einer neuen Flammenfrau ungeduldig erwartet. Dort habe ich vor langer Zeit geschworen, mein Leben in Euren Dienst zu Stellen, Hüterin.« Er deutete eine leichte Verbeugung an. »Ich habe auch die Eskorte angeführt, die Euch zu den flammenden Bergen begleiten sollte. Doch dabei habe ich versagt.« Er senkte einen Lidschlag lang die Augen. »Die schwarze Priesterin hatte mein Herz und meinen Verstand verwirrt. Auch meine Männer hat sie mit ihren dunklen Liedern verführt, bis sie zu einer Horde wilder Raufbolden wurden, die alles vergessen hatten, was ihnen einst heilig war. Aber die Heilerin mit den hellen Augen hat mir geholfen, den rechten Pfad wiederzufinden. Sie hat den Zauberbann gebrochen, der mein Herz in die Finsternis gezogen hatte. Eines jedoch konnte sie mir nicht nehmen, die Trauer darüber, Euch nie begegnet zu sein. Ich glaubte, Ihr, Hüterin des Feuers, wäret auch am Wasserfall zu Stein erstarrt, wie alle anderen Frauen dort. So war Inmees Tod für mich das einziges Ziel, was mir noch blieb. Doch jetzt, da Ihr lebt, ist mein Platz an Eurer Seite, um gemeinsam mit Euch den Kampf gegen Inmee zu wagen.«
Er beugte ein wenig sein Haupt, so daß die blonden Strähnen ihm über die Augen fielen. »Und wenn Ihr den Tod wählt, dann werde ich Euch auch dorthin begleiten.«
Brunhild schwieg einen Augenblick. Als sie weitersprach, klang ihre Stimme heiser. »Wie Ihr wollt, Norwin«, sagte sie. »Die Göttin möge Euch schützen!«
Das tote Kind wog schwer in Brunhilds Armen. Die Rede des Kriegers rührte ihr Herz und ihr Gewissen, mehr als ihr lieb war. Doch sie wußte, daß es vergebens war. Sie hatte den Weg der Göttin verlassen, indem sie sich von dem Zorn und dem Haß auf die Wölfin hatte leiten lassen. Nur so hatte das schwarze Tier sie täuschen können, und das Mädchen hatte dafür sterben müssen. Es war zu spät. Sie konnte nicht mehr zurück.
Die Männer mit den Fackeln näherten sich in einem schweigenden Marsch dem Wald. Sie schienen wild entschlossen zu sein, den Tod des Mädchens und der anderen Dorfbewohner zu rächen.
Wahrscheinlich werden wir den nächsten Sonnenaufgang nicht mehr erleben, dachte Brunhild, und der Gedanke erschreckte sie nicht einmal. Zu sterben war immer noch ehrenhafter, als mit der Schande zu leben, die Göttin und die Lehre einer großen Kriegerin verraten zu haben.