»Haltet ein! Weiter wird die Frau nicht mit Euch gehen!« Eine tiefe Stimme, die das Geschrei der Männer übertönte, erklang durch die Nacht. Brunhild hielt inne.
Augenblicklich schienen die Männer in der kalten Luft zu erstarren, ihre Gesichter wandten sich um.
Brunhild horchte angestrengt. Sie hörte das leise Schnaufen eines Pferdes in einiger Entfernung, doch sie wagte nicht, sich ebenfalls umzusehen.
Gorrol riß staunend die Augen auf, als habe er einen Geist erblickt. Seine Hände begannen zu zittern. Wie gebannt blickte er an ihr vorbei in die Dunkelheit.
»Das ist der Craiach«, flüsterte einer plötzlich. Es war der Altere mit dem wirren Haar, der Brunhild mit der Axt bedroht hatte.
»Die Priesterin gehört mir!« sagte die Männerstimme hinter ihr. Brunhild war sich nun sicher. Es mußte der maskierte Reiter sein. Offensichtlich sprach er mit Gorrol, doch der Junge rührte sich nicht.
»Gorrol, du mußt sie gehen lassen!« flüsterte der Alte mit der Axt und kam langsam näher. Er war offensichtlich beunruhigt. Immer wieder schaute er zwischen dem Mann hinter ihr und dem Jungen hin und her. »Einen Augenblick nur, Craiach«, sagte er.
Auch allen anderen schien der Fremde Respekt einzuflößen, denn allmählich ließen sie die Waffen sinken.
Brunhild sah, wie sich die Hand des Alten behutsam auf die Schulter des Jungen legte. »Nimm das Schwert fort, Gorrol. Es ist der Craiach, der sie will!«
»Sie muß sterben!« flüsterte der Junge, ohne seinen Blick abzuwenden. »Sie hat meine Schwester und auch die anderen getötet.«
»Sei vernünftig!« Der Alte griff nach dem Schwert und nahm es dem Jungen aus der Hand. »Wenn der Craiach es wünscht, werden wir sie ihm überlassen!«
Gorrol blickte den Alten schweigend an. Brunhild glaubte zu sehen, daß die Gesichtszüge des Jungen weicher wurden. Der Haß schien zu schwinden, dafür legten sich die Schatten der Trauer darüber. In seinen Augen schimmerten Tränen.
»Laßt die Frau hier«, sagte die Stimme leise hinter ihr. »Ich werde mich um sie kümmern. Geht jetzt alle zurück in Euer Dorf! Verbrennt die Toten und wachet bis zum Morgengrauen!«
Der Alte mit dem wirren Haar machte eine rasche Verbeugung und zog den Burschen von Brunhild fort. Auch die anderen Männer gehorchten den Worten des Fremden und gingen zurück. Mit gebeugten Schultern wandten sie sich ihrem Dorf zu und verschwanden nach und nach zwischen den schwarzen Schatten der Häuser, bis Brunhild allein in der Dunkelheit stand.
»Mir scheint, Hüterin des Feuers, Neugierde gehört nicht zu Euren Fehlern.« Ein leises, warmes Lachen erklang. »Ihr dürft Euch frei bewegen, Priesterin, und Ihr dürft mich sogar anschauen, wenn Eurer Herz es begehrt.«
Langsam drehte Brunhild sich um und erblickte den maskierten Reiter, der ihr schon im Zaubergarten begegnet war. Er saß lässig auf seinem Fuchshengst und deutete eine leichte Verbeugung an. »Ich schätze mich glücklich, der neuen Hüterin des Feuers meine Aufwartung machen zu können«, sagte er. »Wie ich sehe, tragt Ihr schon wieder kein Schwert bei Euch!« Es klang erneut ein wenig spöttisch.
»Ich werde auch niemals mehr eines tragen«, entgegnete Brunhild leise und ging zu Norwin zurück. »Mein Begleiter ist tot! Warum habt Ihr ihn getötet?« Sie hatte an dem Sattelzeug des Fuchses einen silbernen Bogen entdeckt und einen Köcher mit weißgefiederten Pfeilen. »Er war unschuldig!«
Der Craiach wendete sein Pferd und folgte ihr die wenigen Schritte bis zu Norwins Leiche. »Ich weiß, daß er unschuldig ist, Hüterin! Eure Sorge ist ganz unbegründet. Ich habe mir nur erlaubt, Eurem Begleiter das Leben zu retten, indem ich ihn mit meinem Pfeil ein Schlafmittel einflößte.«
»Ein Schlafmittel? Aber warum?«
»Nun, edle Frau, ich war ziemlich sicher, daß die Dorfbewohner genügend Ehrfurcht vor mir besitzen, Euch mir kampflos zu überlassen. Euer Leben war also niemals wirklich in Gefahr, wenn man von den nervösen Händen des jungen Gorrol einmal absieht. Aber für den Krieger konnte ich nicht garantieren. Aus diesem Grunde habe ich auf ihn geschossen mit dem Wissen, daß er in ein paar Stunden wieder aufwacht. Außerdem glauben die Männer nun, daß sie einen Schuldigen zum Totentor gesandt haben, und sind überzeugt davon, daß auch Ihr in meinen Händen nicht mit dem Leben davonkommt.«
»Ihr behauptet also, daß Norwin noch lebt.«
»Gewiß tut er das.« Der Ritter lachte wieder. »Und Ihr lebt auch noch!«
9. KAPITEL
Ein leises Schnurren und der sanfte Druck einer Pfote auf ihren Wangen weckten Antana aus dem Schlaf. Sie blinzelte müde und richtete sich auf. Es war weit nach Mitternacht. Ein kühler Wind wehte. Der Druck der Pfote wurde ungeduldiger. Antana lächelte. »Bist du doch noch gekommen«, sagte sie zärtlich. »Ich habe dich vermißt. Wo hast du dich herumgetrieben, Pyros?« Sie strich über das weiche Fell des Katers.
Das Schnurren neben ihr wurde lauter. Gähnend rieb sie sich über den steifen Nacken. Sie war es nicht mehr gewohnt, ihre Nächte unter freiem Himmel zu verbringen. Für solche Dinge fühlte sie sich ein wenig zu alt. Ihre Glieder waren erstarrt, und ihre Kleider waren klamm. Selbst ihre langen Haare hingen in feuchten Strähnen herab.
Der Kater mauzte. Antana betrachtete ihn liebevoll.
»Nun werde nicht gleich ungeduldig«, sagte sie lächelnd. »Erst verschwindest du ganz plötzlich, und dann, wenn es dich nach Zärtlichkeiten verlangt, kommst du zurück und weckst mich aus dem Schlaf auf. Das sind mir schöne Sitten.« Sanft fanden ihre Finger die kleine empfindliche Stelle hinter den Ohren des Tieres und kraulten ihn dort. Sie wußte, daß es seine Lieblingsstelle war. Doch der Kater mauzte wieder und legte den Kopf schief. Seine Schnurrbarthaare zitterten ungewöhnlich heftig.
Antana nahm ihre Hand fort und schaute das Tier genauer an. »Du willst mir etwas sagen, nicht wahr?« Der Kater drängte sich mit dem Köpfchen an ihren Arm. Antana gähnte noch einmal. Die Form der geistigen Verschmelzung, die der Magier, seit er als Kater lebte, mit ihr vollzog, konnte durchaus recht anstrengend sein.
»Es ist mitten in der Nacht, Pyros. Hat es nicht Zeit bis morgen früh?« fragte sie und schloß die Augen in der Hoffnung, daß Pyros Botschaft an sie nicht besonders wichtig war.
Die Heilerin öffnete die Augen wieder. Der Kater stellte sich auf die Hinterbeine und langte ihr mit der Vorderpfote sanft ins Gesicht. Er tippte auf ihre Wange und mauzte noch einmal.
»Also schön!« sagte sie und drehte sich auf den Bauch. Sie stützte den Kopf auf ihre Hände und atmete noch einmal tief ein. Der Kater ließ sich ihr gegenüber nieder, so daß seine kleine, feuchte Nase fast ihr Gesicht berührte. Dann rückte er ein Stück nach hinten, damit ihre Augen auf gleicher Höhe lagen und er sie ohne Anstrengung eine Weile anschauen konnte. Ein paarmal wirbelte sein buschiger Schwanz auf und ab, zum Zeichen, daß er bereit war. Die Heilerin hob den Blick und schaute dem Kater in die Augen.
Antana brauchte eine Weile, bis sie sich sammeln konnte. Hier draußen in dem versteinerten Garten war es nicht so einfach. Der Wind lenkte sie ab, und auch die düstere Stimmung, die über alldem lag, erleichterte es ihr nicht, sich auf das Tier einzustellen. Doch allmählich wurde sie innerlich leichter. Die dunklen Augen des Katers schienen tiefer zu werden. Sie spürte, wie ihr Geist sich öffnete, je länger sie dalag und das Tier anblickte. Schließlich war ihr Kopf frei von allen störenden Gedanken. Sie vergaß den Garten und Mirka, sie vergaß den Krieger, ja, selbst ihre Gefühle waren nicht mehr wichtig. Es gab nur noch Pyros und sie.