»Aber, ich verstehe nicht?!«
»Du brauchst nichts zu verstehen! Kannst du es? Ja oder nein?« Die Stimme der Priesterin hatte einen festen Klang bekommen, und ihre Augen waren streng auf Brunhild gerichtet.
»Natürlich kann ich es«, erwiderte Brunhild. »Mirka ließ es mich seit unzähligen Tagen immer wieder singen.«
»Das war sehr weise von der Hohenpriesterin«, sagte die Alte und schaute wieder in den Himmel, dann auf den Wasserfall, schließlich fiel ihr Blick zurück auf Brunhild, die sich, ohne die Hand der alten Frau loszulassen, auf dem feuchten Boden niedergelassen hatte.
»Was habt Ihr vor, Ramee? Sprecht nicht in Rätseln zu mir.«
Die Alte nickte. »Wie du willst. Gestern war die Nacht des brennenden Mondes!«
Brunhild nickte. Sie hatte den unheimlichen roten Mond am Himmel gesehen. Es hatte sie eine Weile beunruhigt, doch dann war sie eingeschlafen.
»Während der Zeit des roten Mondes«, fuhr Ramee fort, »hat die dunkle Seite der Göttin sehr viel Macht.«
»Mirka hat mir von der dunklen Göttin erzählt«, sagte Brunhild und versuchte, sich an die Worte der Hohenpriesterin zu erinnern. »Stell dir eine zornige, wilde Frauengestalt vor«, hatte Mirka gesagt. »Eine Frau mit schwarzem Zottelhaar, die schön und häßlich zugleich ist, blutig und leichenblaß, die ewig hungrig ist nach Blut und Fleisch und die niemals zur Ruhe kommt. Deren Leben der Haß und das Verderben ist, aber auch die Trauer und die Jagd, ohne daß sie damit je an ein Ziel käme, denn Rastlosigkeit ist ihr Fluch.«
Brunhild hatte lange nicht an Mirkas Beschreibung gedacht, ihr war die Vorstellung von der dunklen Göttin niemals wichtig gewesen. Hier im heiligen Hain der weißen Göttin war das Finstere, Lieblose weit fort!
»Nun«, sagte Ramee, »in dieser unheilvollen Nacht sind die Tore zu anderen Welten weit offen. Geisterwesen verlassen die eine Welt und gehen in eine andere, Dämonen können gerufen werden, und es ist möglich, bestimmte Rituale zu vollziehen, die sonst durch unsere heilige Göttin verhindert werden.«
Brunhild neigte den Kopf ein wenig. Für einen Augenblick war sie sicher gewesen, fremde Stimmen zu hören, doch dann war es wieder still.
»Du glaubst also«, fragte sie, »daß irgend jemand in der letzten Nacht die Gunst des roten Mondes ausgenutzt hat, um zur schwarzen Göttin zu beten?«
Die Alte nickte. »Ja, das glaube ich. Wahrscheinlich ist da sogar mehr geschehen als nur ein Gebet. Vielleicht ist dieses Gebet, was auch immer es war, erhört worden.«
»Aber was bedeutet das für uns hier am Wasserfall?« Brunhild blickte besorgt um sich. Wieder hatte sie das Gefühl, hinter dem Nebel, am anderen Ufer des Sees, etwas gehört zu haben.
Auch die Alte hob den Kopf, fuhr aber dann leise mit ihrer Rede fort.
»Als Mirka und Arma heute morgen nicht zurückgekehrt sind und auch die Eskorte aus den Feuerbergen nicht kam, haben die Priesterinnen und ich in einer Zeremonie das Orakel des Tempels befragt. Was wir sahen, hat uns sehr beunruhigt. Die dunkle Macht ist aus irgendeinem Grund sehr stark geworden. Die heiligen Wasser des Tempels haben sich schwarz gefärbt, einige der Fische in dem göttlichen Teich waren verendet, die Blütenblätter der Seerosen waren blutrot. So haben die Frauen und ich, als die älteste der Priesterinnen, beschlossen, daß es das sicherste wäre, eine neue Hohepriesterin zu wählen, jedenfalls bis Mirka wieder da ist, um dich jetzt sofort zur Hüterin des Feuers zu weihen. Denn, wenn das Dunkle die Herrschaft über das Feuer der flammenden Berge bekommt, wird es die Macht über das ganze Land haben. Viele Menschen werden sterben, und der Wasserfall wird der letzte heilige Ort hier sein, in dem die weiße Göttin lebt!« Ramee hielt inne.
Ein leises, wohlvertrautes Zischen ließ Brunhild zusammenfahren. Blitzartig zuckte etwas an ihren Augen vorbei, dann sah sie, daß die alte Priesterin neben ihr mit schmerzverzerrtem Gesicht zusammenbrach und von dem Stein, auf dem sie gesessen hatte, hinabglitt.
Ein schwarzgefiederter Pfeil hatte sie an der Schulter getroffen. Mühsam richtete sich die Alte wieder auf, doch Brunhild zog sie mit beiden Armen erneut herunter.
»Ihr müßt hinter den Stein, sie schießen vom anderen Ufer aus!« sagte die junge Kriegerin und zog die alte Priesterin in Deckung.
»Sie schießen?« Die Alte brauchte einige Augenblicke, bis sie wußte, was um sie herum geschah. Ungläubig betrachtete sie den Pfeil in ihrer Schulter. Das weiße Gewand verfärbte sich blutrot.
»Sie schießen hier am Wasserfall!« wiederholte sie, als sei es erst jetzt tief in ihren Geist eingedrungen.
»Eure Worte waren zu früh gesprochen«, bemerkte Brunhild, die versuchte, durch den Nebel hindurch ans andere Ufer zu spähen. »Der Wasserfall wird nicht die letzte Zufluchtstätte sein, wie Ihr prophezeit habt, ehrwürdige Priesterin, sondern er wird angegriffen!«
»Das ist nicht möglich!« Die Alte versuchte wieder, sich aufzurichten.
Brunhild warf einen Blick über die Schultern zum Tempelhügel. Erleichtert atmete sie auf, von dort kamen fünf Priesterinnen in ledernen Rüstungen. Sie hatten die Eindringlinge offenbar bemerkt, denn sie trugen Pfeile, Bögen und Schwerter bei sich. Geschmeidig glitten sie den Hügel hinab und verteilten sich rasch entlang des Seeufers, um die Angreifer aufzuhalten.
Brunhild spielte mit dem Gedanken, sich ebenfalls ihre Waffen zu holen, als Ramee sie am Arm berührte.
»Brunhild, entzünde das Feuer«, sagte sie ruhig, während sie mit einem kurzen Ruck den Pfeil in ihrer Schulter abbrach. Leise murmelte die alte Priesterin einen Vers, dann schien sie die Schmerzen wieder vergessen zu haben. Ihre grauen Augen hatten alle Strenge verloren, als sie Brunhild wieder ansah. Es schien, als blickten sie die junge Kriegerin aus weiter Ferne an. Brunhild kannte dieses stille Feuer in den Augen der anderen, es war ein Zeichen, daß die Priesterin mit ihrem Herzen der Göttin sehr nahe war.
»Jetzt hier?« Sie duckte sich wieder, um einem neuen Pfeil auszuweichen.
»Sing endlich!« befahl Ramee.
Brunhild schaute die Alte noch einmal an, dann gehorchte sie. Mit zitternder Stimme begann sie die erste Strophe des Flammenliedes.
»Weiter!« drängte die Alte. »Höre nicht auf!«
Brunhild sang jede einzelne Strophe des Liedes. Als sie bei der letzten Zeile ankam, begann sich das nasse Gras neben dem Stein zu entzünden. Kleine rote Flammen leckten gierig an dem feuchten Grün und wurden merklich größer. Ramee lächelte und löschte das Feuer mit zwei magischen Worten.
»Gut!« sagte sie und hob ihre freie Hand über den Kopf der Kriegerin. Laut rief sie den Segen der Göttin auf Brunhild herab. Dann sprach sie einen Vers in alter Sprache und küßte die junge Frau auf die Stirn.
»Hüte das Feuer, Tochter Luovanas. Schütze die Flammen vor der dunklen Macht. Sei Priesterin und auch Kriegerin, wie die heilige Göttin es von dir erwartet! Wahre die Flammen des Lichtes und ehre die heilige Frau«, sagte sie. Dann schloß sie die Augen und konzentrierte sich.
Brunhild fühlte eine seltsame Kraft in sich aufsteigen, so, als bekämen die unzähligen Lieder, die sie in all den vielen Monden seit ihrer Kindheit gelernt hatte, plötzlich einen anderen Sinn. Es war, als würde sie all die Worte nun deutlicher verstehen können.
»Ramee, was geschieht mit mir?«
»Das ist der Segen der Göttin, mein Kind!« sagte die Alte. »Jeder Priesterin wird er erteilt, doch dann muß sie sich dieses Segens würdig erweisen. Tue, was von dir erwartet wird, auch wenn es dir ungewöhnlich erscheinen mag, dann ruht dieser Segen für den Rest deines Lebens auf dir!« Mit einer Hand löste Ramee die Schnalle ihres Gürtels und gab ihn Brunhild.
»Es gehört zur Zeremonie, daß die Hohepriesterin bei der Weihe der Hüterin des Feuers ein Geschenk überreicht. Gewöhnlich ist es der Rubin, den die Flammenfrau empfängt, doch ich kann dir nur diesen Gürtel geben. Er ist in seiner Zauberkraft längst nicht so mächtig wie der Stein, doch er wird dich stärken, dir Mut und Kraft verleihen, damit du jeden Kampf, zu dem du gefordert wirst, siegreich beendest!«