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Terry Brooks

Das Zauberlied von Shannara

1

Ein Wechsel der Jahreszeiten stand den vier Ländern bevor, als der Spätsommer langsam in den Herbst überging. Dahin waren die langen, stillen Tage der Jahresmitte, da brodelnde Hitze den Gang des Lebens verlangsamte und das Gefühl herrschte, für alles ausreichend Zeit zu haben. Hing auch die Sommerwärme noch in der Luft, so wurden die Tage allmählich kürzer, die feuchte Luft wurde trockener und die Erinnerung an die Unmittelbarkeit des Lebens erwachte von neuem. Überall waren Anzeichen des Übergangs zu erkennen. In den Wäldern von Shady Vale begann das Laub bereits, sich zu verfärben.

Brin Ohmsford blieb an den Blumenbeeten stehen, die den Weg auf der Vorderseite ihres Hauses begrenzten, und verlor sich sogleich im hochroten Blattwerk des alten Ahorns, der den Hof dahinter überschattete. Es war ein gewaltiges Exemplar mit breitem, knorrigem Stamm. Brin lächelte. Dieser Baum war für sie die Quelle vieler Kindheitserinnerungen. Unwillkürlich trat sie vom Weg und ging hinüber zu dem betagten Baum.

Sie war ein hochgewachsenes Mädchen — größer als ihre Eltern oder ihr Bruder Jair, fast so groß wie Rone Leah — und obgleich ihr schlanker Körper irgendwie auch zart wirkte, war sie so kräftig wie die anderen auch. Jair würde in diesem Punkt freilich widersprechen, doch nur deshalb, weil er schon genügend Probleme damit hatte, seine Rolle als Jüngster anzunehmen. Letzten Endes blieb ein Mädchen ein Mädchen.

Ihre Finger strichen sanft über die rauhe Ahornrinde, liebkosten sie, und ihr Blick wanderte hinauf in das Ästegewirr über ihr. Langes, schwarzes Haar strömte von ihrem Gesicht, und es konnte kein Zweifel bestehen, wessen Kind sie war. Vor zwanzig Jahren hatte Eretria genauso ausgesehen wie ihre Tochter jetzt, vom dunklen Teint über die schwarzen Augen zu den weichen, zarten Gesichtszügen. Brin fehlte nur das feurige Temperament ihrer Mutter. Das hatte Jair geerbt. Brin hatte das Wesen ihres Vaters: kühl, selbstsicher und beherrscht. Als Wil Ohmsford einmal seine Kinder verglichen hatte — wozu eines von Jairs eher tadelnswerten Mißgeschicken ihm den Anlaß gegeben hatte — war ihm ziemlich wehmütig aufgefallen, daß Jair zu allem fähig war und Brin ebenso, sie allerdings erst nach reiflicher Überlegung. Brin wußte nicht mehr genau, wer bei dieser Strafpredigt damals den kürzeren gezogen hatte.

Sie ließ ihre Hände hinten an den Seiten ihres Körpers entlanggleiten. Sie erinnerte sich an das eine Mal, da sie das Wünschlied auf den alten Baum angewandt hatte. Sie war noch ein Kind gewesen und hatte mit dem Elfenzauber herumexperimentiert. Es war Hochsommer gewesen, und sie hatte das Wünschlied eingesetzt, um das grüne Sommerlaub des Ahorns in herbstliches Feuerrot zu verwandeln. In ihrem kindlichen Denken fühlte sie sich dabei völlig im Recht, denn Rot war schließlich eine weit hübschere Farbe als Grün. Ihr Vater war wütend gewesen; der Baum hatte fast drei Jahre benötigt, um nach dem Schock wieder zu seinem natürlichen Rhythmus zu finden. Das war das letzte Mal gewesen, daß sie oder Jair, wenn ihre Eltern in der Nähe waren, Elfenzauber angewandt hatten.

»Brin, komm, hilf mir bitte, den Rest zusammenzupacken.«

Ihre Mutter rief nach ihr. Sie tätschelte den alten Ahorn ein letztes Mal und drehte sich zum Haus um. Ihr Vater hatte dem Elfenzauber niemals ganz getraut. Vor etwas über zwanzig Jahren hatte er die Elfensteine, die ihm der Druide Allanon geschenkt hatte, bei seinen Bemühungen benutzt, die Erwählte Amberle Elessedil auf ihrer Suche nach dem Blutfeuer zu beschützen. Die Anwendung des Elfenzaubers hatte ihn verändert; das war ihm damals- schon klar geworden, auch wenn er nicht gewußt hatte, wie das geschehen war. Erst nach Brins und später nach Jairs Geburt war offenkundig geworden, was sich ereignet hatte. Nicht in Wil Ohmsford würde sich der Wandel manifestieren, den der Zauber bewirkt hatte, sondern in seinen Kindern. Sie waren diejenigen, welche die sichtbaren Folgen der Zauberei in sich trugen — sie, und vielleicht alle kommenden Ohmsford-Generationen, obgleich bislang keine Möglichkeit bestand sicherzustellen, daß das auf den Zauber des Wünschliedes zutraf.

Brin hatte ihm den Namen Wünschlied gegeben. Wenn man etwas wünschte, wenn man es besang, erfüllte sich der Wunsch. So war es ihr erschienen, als sie zum ersten Mal entdeckte, daß sie die Kraft besaß. Sie erfuhr früh, daß sie das Verhalten von Lebewesen mit ihrem Lied zu beeinflussen vermochte. Sie konnte das Laub des alten Ahorns verändern. Sie vermochte einen rasenden Hund zu besänftigen. Sie konnte einen Wildvogel verlocken, sich auf ihrem Handgelenk niederzulassen. Sie konnte sich selbst zum Teil jedes beliebigen Lebewesens machen — oder es zum Teil ihrer selbst. Sie wußte nicht genau, wie sie es bewirkte; es geschah einfach. Sie sang — wobei Melodie und Text wie stets unbeabsichtigt und nicht einstudiert ganz von selbst kamen — als wäre das die natürlichste Sache von der Welt. Sie war sich dessen, was sie sang, stets bewußt, überlegte jedoch gleichzeitig überhaupt nicht, da ihr Denken in unbeschreiblichen Gefühlen gefangen war. Diese Gefühle durchfluteten und durchzogen sie, erneuerten sie irgendwie, und der Wunsch pflegte sich daraufhin zu erfüllen.

Es war das Geschenk des Elfenzaubers — oder aber sein Fluch. Als letzteres hatte ihr Vater es erachtet, als er entdeckte, daß sie diese Fähigkeit besaß. Brin wußte, daß er tief in seinem Innern sich davor fürchtete, wozu die Elfensteine in der Lage waren; und davor, was sie bei ihm bewirkt hatten. Nachdem Brin den Hund der Familie dazu gebracht hatte, hinter seinem Schwanz herzujagen, bis er vor Erschöpfung fast umfiel und einen ganzen Gemüsegarten hatte welken lassen, hatte ihr Vater rasch verkündet, daß niemand jemals wieder die Elfensteine benutzen dürfe. Er hatte sie versteckt und keinem gesagt, wo sie zu finden wären, und seither waren sie auch in diesem Versteck geblieben. Zumindest glaubte das ihr Vater. Sie war sich dessen nicht so ganz sicher. Einmal, es war noch nicht allzu viele Monate her, hatte Brin beobachtet, wie Jair selbstgefällig grinste, als von den versteckten Elfensteinen die Rede war. Er würde freilich nichts zugeben, aber sie wußte, wie schwierig es war, vor ihrem Bruder etwas geheimzuhalten, und sie vermutete, daß er das Versteck gefunden hatte.

Rone Leah kam ihr an der Eingangstür entgegen, groß und kräftig wie er war, das rostbraune Haar lose auf den Schultern und mit einem breiten Stirnband aus dem Gesicht zurückgenommen. Schelmische, graue Augen verengten sich abschätzig. »Wie wäre es, wenn du auch einmal einen Finger krumm machtest, wie? Ich verrichte die ganze Arbeit, und gehöre nicht einmal zur Familie, um der Katze willen!«

»So oft, wie du hier bist, sollte man es aber fast glauben«, foppte sie ihn. »Was ist noch zu tun?«

»Nur noch diese Sachen rauszutragen, das wäre dann wohl alles.« Eine Anzahl von Ledertruhen und kleineren Koffern war im Eingang aufgestapelt. Rone ergriff den größten. »Ich glaube, deine Mutter braucht dich im Schlafzimmer.«

Er verschwand den Weg hinab, und Brin ging durch die Räume ihres Hauses zu den hinten gelegenen Schlafzimmern. Ihre Eltern machten sich zum Aufbruch zu ihrer alljährlichen Herbstfahrt zu den entlegenen Gemeinden im Süden von Shady Vale bereit, eine Reise, durch welche sie über zwei Wochen von zu Hause abwesend wären. Nur wenige Heiler besaßen die Fähigkeiten von Wil Ohmsford, und keiner davon ließ sich im Umkreis von fünfhundert Meilen um das Tal finden. So bereiste ihr Vater zweimal im Jahr, im Frühling und im Herbst, die abgelegenen Siedlungen und bot seine Dienste an, wo sie benötigt wurden. Eretria begleitete ihn stets; sie war für ihren Mann inzwischen eine geschickte Helferin und in der Pflege der Kranken und Verletzten ebenso geübt wie er. Diese Reise stellte kein Muß dar — und wäre nicht unternommen worden, wären sie weniger gewissenhaft gewesen. Doch Brins Eltern waren von großem Pflichtbewußtsein erfüllt. Das Heilen war der Beruf, dem sie beide ihr Leben gewidmet hatten, und sie nahmen ihre Aufgabe nicht auf die leichte Schulter.